Erziehung in der Ehe: Gefahr und Chance

von Dr. Ulrich Beer


Nicht die Erziehung der Kinder ist das erste Problem in der Ehe, sondern die gegenseitige Erziehung. Manche, vor allem manche Frauen, sind wahre Meister darin - und manche glauben es zu sein ... Das Geheimnis ist, daß die, die es sind, es meist gar nicht wissen, weil sie gar nicht erziehen wollen. Und die, die es sein wollen, sind es meistens nicht.

Ich kenne ein Ehepaar, in dem die Frau sich bewußt als Erzieherin ihres Mannes fühlt. Sie sieht darin so etwas wie einen Beruf. Vielleicht liegt das nahe, weil sie Lehrerin war und nun ihren Beruf nicht mehr ausübt. In den ersten Jahren hat diese Ehe davon zweifellos profitiert. Der Mann - aus kleinen Verhältnissen stammend - hatte zunächst einen praktischen Beruf, lernte dann seine Frau kennen, die seine Erziehung alsbald in die Hand nahm. Nicht nur, daß sie ihm Tischmanieren und gepflegte Umgangsformen beibrachte, sie sorgte auch für seine Weiterbildung und bewog ihn schließlich dazu, noch ein Studium aufzunehmen, das er auf Grund seiner Begabung, seines Fleißes und ihrer Erziehung mit Erfolg abschloß. Sie sorgte auch für sein Weiterkommen, und da er selbst dazu neigt, die Dinge auf sich zukommen zu lassen und von sich selbst und den anderen nicht allzuviel zu erwarten, so steckte sie ihm die Ziele und trieb ihn dazu an, sie zu erreichen. - Heute ist er Direktor und er wird es sicher noch weiter bringen.

Das Dumme ist nur, daß sie sich mit ihren Erziehungserfolgen - die gar nicht zu bestreiten sind - nicht begnügt. So gut er alle an ihn gestellten Forderungen er füllt haben mag: Sie ist doch nie zufrieden mit ihm. Jetzt stellt sich heraus, daß offenbar gar nicht sein Wohl und sein Erfolg der eigentliche Zweck waren, sondern daß das Erziehen ihr als solches ein Bedürfnis ist. Unentwegt maßregelt sie an ihrem Mann herum. Nicht genug, daß er ein erfolgreicher Akademiker und in der Gesellschaft hoch geachteter Mitmensch ist, dem man viele Ehrenämter übertragen hat, den man gern zu Gesellschaften einlädt, weil er gescheit, umgänglich und tolerant ist, zu Konferenzen, weil man sein qualifiziertes fachliches Urteil schätzt, sie möchte auch noch einen sportlichen und attraktiven Mann haben. Deshalb muß er regelmäßig Gymnastik treiben, darf niemals ein zweites Stückchen Kuchen essen, und das Bier am Abend mißgönnt sie ihm auch. Sie versteht nicht, daß er von der verantwortungsvollen Arbeit häufig ermüdet nach Hause kommt, sondern wünscht dann noch einen amüsant plaudernden Gesellschafter und hält es ihm vor, wenn er es nicht ist. Sie beklagt sich, daß er sich zu wenig, um die Kinder kümmere - welchen Vater in verantwortungs- und sorgenreicher Stellung trifft dieser Vorwurf nicht? - und möchte ihn zu einem besseren Vater erziehen. Zugleich soll er aber auch ihrer Mutter gegenüber, die einst in besseren Verhältnissen lebte, der wohlerzogene, werbende Jüngling von einst sein. Kurzum: Sie hat immer neue Ziele und ist immer noch nicht zufrieden mit dem Ergebnis ihrer Erziehung.

Jedem ist klar, daß sich das Objekt dieser Erziehung, inzwischen nicht nur erwachsen, sondern auch gesellschaftlich sicher und erfolgreich, nicht gerade wohl dabei fühlt. Aber wie gewöhnlich, wenn sich eine bestimmte Rollenverteilung - hier der Erzieher, dort der Erzogene etwa - erst eingespielt hat, so ist es schwer für den einzelnen, wieder auszusteigen. So tut er nach außen hin, als ob er alles in Ordnung fände. Er wagt es nicht, sich dagegen aufzulehnen, einmal tüchtig auf den Tisch zu hauen oder besser: Mit ihr in Ruhe über das Ganze zu sprechen. Er fügt sich nach außen hin. In Wahrheit aber hat er sich neben seiner allzu erziehungswütigen Frau eine charmante junge Freundin zugelegt, die ihn so nimmt wie er ist und ihn nicht anders haben will. Genau darin liegt die Gefahr des Erziehens in der Ehe: daß man den anderen anders haben und anders machen möchte als er ist.

Unzählige Ehen leiden darunter, daß Frauen ihre Männer, Männer ihre Frauen anders haben wollen als sie sind. Dabei ist der Erziehende deshalb so schwer davon zu überzeugen, daß sein Bemühen gefährlich ist, weil er meistens das stolze Bewußtsein hat, etwas besonders Edles und Uneigennütziges zu tun, das der Partner nur nicht genug zu würdigen weiß. Er ist von Idealen erfüllt und sieht auch in seinem Ehepartner ein hohes Ideal, dem dieser leider noch so wenig ähnlich ist. So handelt er wie der Mann in Bert Brecht's Kalendergeschichten, der auf die Frage, wie er einen Menschen kennenlernt, antwortet: "Ich mache mir einen Plan. Und dann mache ich, daß er ihm ähnlich wird." "Wer, der Plan?" "Nein, der Mensch."

So großartig der Plan, so hoch und edel das Ideal auch immer sein mag - die Motive, aus denen sie entspringen, und die Folgen, die aus ihnen erwachsen, sind es meist nicht.

Die Folgen - um damit zu beginnen - bestehen darin, daß man den andern nicht zur Ruhe kommen läßt, immerfort etwas von ihm will, an ihm herummäkelt, alles besser weiß. Da gibt es die Dragoner, die den Partner unentwegt herumschicken "hol dies, hol das", die ständig dazwischenreden, wenn er auch einmal etwas sagt, die ihn meistens allerdings gar nicht zu Wort kommen lassen. Da sind die, welche den andern anspannen möchten, indem sie ihm Herrn Müller als Vorbild vorsetzen, der doch so viel höflicher ist, oder das reizende Fräulein Sauer, das sich viel sorgfältiger pflegt und immer ein Lächeln bereit hat. Wer hätte es gern, mit solch musterhaften Mitmenschen verglichen zu werden? Nun, niemand hat es gern. Man versucht sich zu wehren, und wenn das nicht gelingt, den Erziehungsanspruch des anderen einfach zu unterlaufen - zum einen Ohr rein, zum anderen raus - und sich die Anerkennung, das Bejahtwerden und das bißchen Bewunderung, das jeder von uns braucht wie die Blume den Sonnenschein, anderswo zu holen. Und irgendwann ist es dann vielleicht soweit, daß auch der andere merkt, wie falsch es war, unentwegt erziehen zu wollen. Aber dann ist häufig die Ehe schon schwer gestört.

Wie gesagt, der erziehungsfreudige Ehepartner sieht seinen Fehler deshalb so schwer ein, weil er von dem Edelmut seiner Motive und der Größe seiner Aufgabe durchdrungen ist. Er hält sich für musterhaft und unfehlbar und will dem anderen doch nur helfen. Das einzige, was aber jetzt helfen kann, ist, den Erziehungsanspruch völlig und radikal aufzugeben. Vielleicht gelingt es dem Ehepartner, vielleicht einem Dritten, ihm klarzumachen, daß seine Motive doch nicht ganz so edelmütig waren, wie er dachte. Und das ist das wichtigste bei der Überwindung dieser Fehlhaltung, sich darüber klarzuwerden.

Die Gründe, den andern unentwegt ändern zu wollen, können sehr vielfältig sein. Sie können in einer unbewußten, aber überstarken Bindung an die eigene Mutter oder den eigenen Vater liegen, deren Vorbild man den andern angleichen möchte. Sie können aber auch Ausdruck einer tiefen Unzufriedenheit mit sich selbst sein. Wer mit sich selbst unzufrieden ist, ist es auch mit anderen. Und gewöhnlich nimmt man anderen Menschen die eigenen Fehler am meisten übel. Vielleicht existiert da ein unerreichtes Ideal, ein berufliches, gesellschaftliches oder ethisches Leitbild, das man - wenn nicht selbst erreichen - doch wenigstens den anderen erreichen lassen will. Oft entspringt dieses Verhalten einem tiefwurzelnden Mangel an echter Liebesfähigkeit, zu der das Annehmen eines Menschen, so wie er ist, zentral hinzugehört. Wirkliche Liebe liebt den andern immer so, wie er ist, und ändert ihn gerade dadurch am meisten. Darin liegt die Chance der Erziehung in der Ehe, denn in jeder, auch in der guten Ehe findet Erziehung statt: daß man nicht erst Nein und dann Ja sagt, nicht erst erwartet, daß der andere sich ändert, um ihn dann anzunehmen. Die Liebe sagt erst und vor allem Ja, und dadurch ändert sie. "Nein, wie hat sich die Gertrud entwickelt! Früher war sie doch ein oberflächliches, respektloses und überdies kratzbürstiges Wesen, mit dem man nicht gerne im Unguten zu tun bekam. Seit sie mit Helmut verheiratet ist, ist sie so vernünftig, so verantwortungsbewußt und verträglich geworden, daß es einem Freude macht, sie zu sehen und mit ihr umzugehen. Ihren Haushalt hat sie in Ordnung, die beiden Kinder erzieht sie rechtschaffen, und ihren Mann behandelt sie gut. Beide scheinen glücklich zu sein. Wie ist das nur möglich?"

Kein Zweifel: Helmut hat einen guten Einfluß auf sie. Dabei ist er sich keineswegs bewußt, noch weniger hat er die Absicht, Gertrud zu erziehen. Er ist ein anspruchsloser, arbeitsamer, jedoch zufriedener und ausgeglichener Mensch, der jeden Menschen achtet und jede Aufgabe, die an ihn herantritt, ehrlich zu erfüllen sucht. Bei ihm fühlt sich Gertrud endlich geborgen. Sie spürt, daß er sie braucht, und mit der Ehe und den Kindern wächst eine neue Aufgabe auf sie zu, die sie ganz ausfüllt und ihrem Leben Sinn und Richtung gibt. Die ständige Auseinandersetzung mit den Eltern liegt hinter ihr, für die Beschäftigung mit sich selbst, ihren Launen und Wünschen bleibt keine Zeit. Sie ist zum ersten Mal wirklich zufrieden und zuinnerst erfüllt, und ganz unbewußt spürt sie, daß das ausgeglichene, selbstlose Wesen ihres Mannes daran einen hohen Anteil hat; so überläßt sie sich gern seiner ruhigen Führung, schlägt seinen Rat und seine Bitten nicht ab und lernt so - erst als Erwachsene, wie übrigens viele Menschen - sich normal und problemlos in ihre Mitwelt einzupassen. Problemlos darf dabei nicht so verstanden werden, als ob sie nun aufhörte, ein selbständiger Mensch zu sein und sich nur noch nach ihrem Manne richte, im Gegenteil wird sie dabei selbständiger und schiebt nicht etwa zunehmende Verantwortung ab, sondern übernimmt sie in wachsendem Maße.

Noch häufiger wahrscheinlich als Frauen durch ihre Männer werden Männer durch ihre Frauen erzogen. Es wäre schlimm, wenn es nicht so wäre! Allein die schlechten, wenn auch angenehmen Gewohnheiten, die Männer, ehe sie verheiratet sind, offenbar in Ordnung finden: den Anzug nicht auf den Bügel zu hängen, mit ungeputzten Schuhen zu lauten oder mit fleckigen Krawatten, abgewetzten Hemden, vollgestopften Taschen, die auch den besten Anzug ausbeulen, volle Aschenbecher nicht auszuleeren, womöglich abends die Zähne nicht zu putzen oder sich nur spärlich zu waschen - doch Schluß! Man könnte sonst zu schlecht von den Herren der Schöpfung denken: aber solche Unarten sollen vorkommen und welche Mühe, sie wieder loszuwerden, vor allem für die darum bemühte Gattin! Nur mit Liebe und sanfter Gewalt wird es im Laufe der Zeit gelingen (wobei das erste wichtiger ist als das zweite). Wenn man sich wirklich liebt, ist man bereit, auch Schritt für Schritt Gewohnheiten abzuwandeln, man schleift sich aneinander ab, ändert sich, ohne daß man es merkt. Das fällt manchen Menschen leichter, anderen schwerer. Man sollte es nie erzwingen oder zur Bedingung stellen. Eine völlige Anpassung ist gar nicht wünschenswert. Die Ehe würde langweilig. Sie muß immer noch neue Spannungen zu überwinden, in Auffassungsunterschieden Gesprächsstoff haben.

Und schließlich ist nicht zu verkennen, daß sich viele Gegensätze ja auch gut ergänzen, wenn man nur die andere Art des anderen zu würdigen weiß. Wenn SIE gern schnell mit dem Wort bei der Hand ist, warum soll ER es auch sein? Dafür kann sie sein besonnenes Urteil einholen, wenn einmal eine wichtige Entscheidung zu treffen ist. So können sich Wesensunterschiede im Laufe der Zeit gut aufeinander einspielen und sogar zu einer gewissen Verteilung der Kompetenzen führen, so daß sich der eine auf diesem, der andere auf jenem Gebiet zuständig und sicher fühlt, vom Partner geachtet und um Rat gefragt wird. Man merkt im Laute der Zeit, welche Unterschiede der Ehe guttun und welche sie belasten. Diese suche man um des andern willen abzustellen und mit seiner Hilfe zu überwinden. Das erfordert viel Geduld, manche offene und ruhige Aussprache und die Einsicht, daß der andere ein eigenes Selbst ist und kein Erziehungsobjekt. Man darf den Ehepartner zu nichts zwingen: nur was er freiwillig zu geben bereit ist, ist wertvoll. Erziehung in der Ehe setzt also gerade den Verzicht auf Erziehung, setzt die Achtung des anderen und damit letzten Endes Selbsterziehung voraus. Und dazu - so wird man merken - ist man allein gar nicht in der Lage. Dazu braucht man die Hilfe eines Menschen, der einen liebt.


Dieser Artikel ist mit freundlicher Genehmigung der Zeitschrift "Weisses Kreuz - Zeitschrift für Lebensfragen" entnommen. Sie können gerne diese Zeitschrift auf Spendenbasis abonnieren.



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Ins Netz gesetzt am 12.08.2013; letzte Änderung: 12.08.2013

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