Sohn Gottes oder Weisheitslehrer?

Evangelikale Einwände gegen die liberale Bibelwissenschaft

von Dr. Achim Baum [ 1 ]



Jesus von Nazareth ist "eine der verschwommensten Gestalten der Geschichte". Denn die Evangelien sind "aus historischer Sicht mit größter Vorsicht zu genießen". Erst Jesu Anhänger haben ihren begnadeten Lehrer mit theologischen Tricks zum Sohn Gottes gemacht. "Das sagt ... so gut wie jeder Theologieprofessor seinen Studenten in den Vorlesungen". So stand es zu Weihnachten im "stern" (Nr. 52/2002) zu lesen.


Ein Standardwerk der Jesus-Forschung

Für seine unter Theologen schon lange nicht mehr spektakulären Thesen beruft sich der stern auf Gerd Theissen, Professor für Neues Testament an der Universität Heidelberg. Dieser veröffentlichte 1996 das Lehrbuch "Der historische Jesus", das an den theologischen Fakultäten mittlerweile als Standardwerk zum Thema gilt. Es geht allen wesentlichen Fragen nach, ist sorgfältig recherchiert und präsentiert seinen Stoff in didaktisch ansprechender Weise. Natürlich spricht Theissen nicht von Tricks, und auch sonst hat der stern seine vornehme Wissenschaftsprosa in ein leichter eingängiges Journalistendeutsch umgewandelt. Aber inhaltlich ist der Redakteur des stern den Kernthesen des Professors einigermaßen gerecht geworden. Wer sich über den Artikel ärgert, sollte sich daher nicht an den Journalisten, sondern an den von ihm konsultierten Fachmann halten.

Was hat Professor Theissen über das Leben Jesu herausgefunden? Jesus wurde nicht von einer Jungfrau geboren, sondern von seinem Vater Joseph gezeugt. Als er sich von Johannes taufen ließ, bekannte auch Jesus seine Sünden. Er hat zwar keine Brote vermehrt und auch sonst nichts Übernatürliches getan, galt aber aufgrund bemerkenswerter Heilerfolge als Wundertäter. Auf ein baldiges Anbrechen des Reiches Gottes, in dem er mit seinen Jüngern in Jerusalem regieren würde, hoffte er vergeblich und wurde gekreuzigt. Seine Jünger aber haben sein Sterben als Sühnetod des neuen Bundes gedeutet, nachdem sie den Auferstandenen in subjektiven Visionen gesehen hatten. Das kann nur heißen, sie haben sich eingebildet, Jesus sei auferstanden und ihnen erschienen.


Entlarvende Allianzen

Von christlichen Theologen werden ähnliche Thesen seit 300 Jahren vertreten. In Wirklichkeit sind sie aber schon viel älter als die Aufklärung. Bereits jüdische Zeitgenossen der Apostel haben die Jungfrauengeburt Jesu bestritten, ihn als Sünder bezeichnet und auf das Osterwunder mit der Behauptung reagiert, seine Jünger hätten den Leichnam Jesu gestohlen (Mt 28,11-15). Auch die frühesten heidnischen Kritiker des Christentums erkannten nur Jesu Kreuzigung als historisches Faktum an. Der platonische Philosoph Celsus verfaßte im Jahre 178 n.Chr. eine antichristliche Kampfschrift, in der er die Evangelisten gröbster Geschichtsverfälschung bezichtigte (Origenes, Gegen Celsus 2,26). In Wirklichkeit habe Maria mit einem römischen Soldaten die Ehe gebrochen (1,32). Und von den Toten könne Jesus nicht auferstanden sein, da so etwas schlicht unmöglich sei (5,14).

Moderne Theologen sprechen in der Regel nicht mehr von einem Grabraub der Jünger. Trotzdem haben sie, indem sie die Historizität der Jungfrauengeburt und der Auferstehung Jesu bestreiten, im Grunde die Seite gewechselt. Wie wirkt sich das auf ihren Glauben aus? Professor Theissen dürfte sich als Glaubender an den historischen Jesus halten, dessen Umrisse er in mühevoller Kleinarbeit aus den Evangelien herausgearbeitet hat. Er scheint aber immerhin mit der Möglichkeit zu rechnen, daß den Jüngern Jesu in ihren subjektiven Ostervisionen von Gott her klar wurde, daß der Tod nicht das letzte Wort hat. Viel mehr ist Theissens Jesusbuch allerdings nicht zu entnehmen, und auch diese knappen Andeutungen bleiben äußerst vage.


Glaube und Wissenschaft

Christen, denen diese Dinge einigermaßen neu sind, reagieren in der Regel erschüttert. Wer regelmäßig damit zu tun hat, gewöhnt sich daran. Aber wie sollen wir antworten, wenn Theologen um der wissenschaftlichen Wahrhaftigkeit willen die Argumente der Gegenseite übernehmen? Was tun, wenn die wissenschaftliche Theologie dazu führt, daß ihren Vertretern und Anhängern der Glaube auf ein Mindestmaß zusammenschmilzt und manchmal sogar ganz zwischen den Fingern zerrinnt? Mancher ist versucht, einen radikalen Schnitt zu machen und die wissenschaftliche Theologie grundsätzlich zu verwerfen. Das ist verständlich. Tatsächlich wäre es jedoch verheerend, wenn die Christen aufhören wollten, methodisch sorgfältig über den Inhalt, das Fundament und die Relevanz ihres Glaubens zu reflektieren. Außerdem wäre eine grundsätzliche Theologie- oder Wissenschaftsfeindlichkeit unbiblisch. Denn unser Verstand bleibt, trotz all seiner Grenzen und Gefahren, eine unschätzbar wertvolle Gabe Gottes. Und hat nicht auch Paulus sich in aller Konsequenz den theologischen Herausforderungen seiner Zeit gestellt?


Die Wunderfrage

Ich sehe drei Ebenen, auf denen wir unsere Einwände gegen eine bibelkritische Bibelwissenschaft vorbringen müssen. Zum einen ruht die moderne Erforschung des Lebens Jesu auf unhaltbaren weltanschaulichen Grundentscheidungen von enormer Tragweite. Der stern scheint diesen Sachverhalt nicht klar erfaßt zu haben. Wer Professor Theissens Bücher genau liest, stößt bald darauf, daß es für ihn keine echten Wunder geben kann. Wer Wunder aber prinzipiell ausschließt, dessen Jesusbild ist in seinen Grundzügen schon fertig, bevor er mit der mühevollen historischen Kleinarbeit an den Evangelien begonnen hat. Es ist nicht wirklich überraschend, wenn der so rekonstruierte Jesus am Ende nicht mehr ist als ein Wandercharismatiker oder ein jüdischer Weisheitslehrer.

Wie aber läßt sich das weltanschauliche Dogma, Wunder könne es nicht geben, einigermaßen überzeugend begründen? Diese entscheidende Frage wird von liberalen Bibelwissenschaftlern häufig gar nicht gestellt. Und wenn sie gestellt wird, fallen die Antworten ziemlich dürftig aus. Die Behauptung, Wunder seien grundsätzlich unmöglich, läßt sich nämlich nicht schlüssig begründen, weder philosophisch noch theologisch. Aus wissenschaftlicher Sicht können die Auferstehungszeugnisse zwar mehr oder weniger wahrscheinlich sein. Wer eine Totenauferstehung jedoch grundsätzlich für unmöglich erklärt, verfährt willkürlich. Diese Einsicht dürfen wir der modernen Bibelwissenschaft unter keinen Umständen ersparen.


Der historische Streit

Mit diesem weltanschaulichen Einwand wäre eine Diskussion mit Professor Theissen aber noch lange nicht beendet. In einem zweiten Schritt wäre zu diskutieren, ob er sich bei seiner historischen Arbeit der richtigen Werkzeuge bedient hat. Es läßt sich nämlich zeigen, daß einige der von ihm verwendeten Methoden und Kriterien völlig ungeeignet sind, auch nur einigermaßen verläßliche historische Ergebnisse zu erbringen. Wer die verkehrten Werkzeuge benutzt oder die richtigen Werkzeuge falsch einstellt, zerstört das, was er untersucht. Biblische Autoren haben die historische Auseinandersetzung offensiv geführt: Der Apostel Paulus spricht von mehr als 500 Augenzeugen, die den auferstandenen Christus gesehen haben (1 Kor 15). Der Evangelienschreiben Lukas legt Rechenschaft über seine Recherchen ab (Lk 1,1-4). Und bis heute kann die Christenheit auf diese Argumente nicht verzichten. Denn ein Glaube, der die historische Evidenz gegen sich hat, müßte auf die Dauer zugrunde gehen oder sich wesentlich verändern.

Andererseits hat die historische Arbeit auch ihre Grenzen. Denn der Historiker kann zwar zeigen, daß wir über vier Berichte aus dem Kreis der Augen- und Ohrenzeugen Jesu und ihrer Schüler verfügen, daß ihre Verfasser von einem ausgeprägten historischen Wahrheitsstreben beseelt waren und daß ihre Darstellungen sich in allen wesentlichen Fragen gegenseitig bestätigen. Aber der Geschichtsforscher kann nur nachweisen, daß sich dies höchst wahrscheinlich so verhält. Mit 100%iger Sicherheit beweisen kann er nichts, nicht einmal die Tatsache, daß Jesus wirklich gelebt hat. Obwohl die historische Wahrscheinlichkeit dafür überwältigend ist, verfügt auch der frömmste Historiker über keinen definitiven Beweis, mit dem er alle Einwände ein für allemal vom Tisch fegen könnte. Dieser Begrenztheit unserer Möglichkeiten sollten wir uns immer bewußt bleiben.


Die Frage nach der Frucht

Aber es gibt noch eine dritte Argumentationsebene, die zwar von den beiden bisher genannten zu unterscheiden ist, jedoch nicht außer acht gelassen werden sollte. Es ist nämlich nicht bedeutungslos, mit welchen Mitteln Gott seit 2.000 Jahren seine Kirche bzw. Gemeinde gebaut hat. Er hat sie in der Zeit der Kirchenväter und in der Zeit der Reformation durch Menschen gebaut, die an den präexistenten und auferstandenen Gottessohn geglaubt haben. Und er baut sie auch nach der Aufklärung und bis heute durch Menschen, die wie Augustin und Luther, wie Bengel oder Schlatter das Evangelium so glauben und verkündigen, wie es uns Jesus und seine Apostel im Neuen Testament vorgegeben haben.

In den vergangenen Jahren sind im Zuge der Pro-Christ-Evangelisationen durch Gottes Gnade viele Menschen Christen geworden. Das liegt auch ganz entscheidend daran, daß Ulrich Parzany das Evangelium von Jesus in seiner neutestamentlichen Gestalt gepredigt hat. Nur wenn dieses alte Evangelium verkündigt wird, tut Gott Menschen das Herz auf (Apg 16,14). Diese Erfahrung soll uns nicht dazu verleiten, den weltanschaulichen Fragen aus dem Weg zu gehen oder in der historischen Arbeit voreingenommen oder oberflächlich zu verfahren. Aber die richtige Theologie wird auch an ihren Früchten erkannt.

[ 1 ] Dr. Armin D. Baum ist Dozent an der Freien Theologischen Akademie in Giessen, Rathenaustraße 5-7, 35394 Gießen

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Ins Netz gesetzt am 21.05.2003; letzte Änderung: am 27.06.2017

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