Die Entstehung der Brüderbewegungvon Joachim Orth (1977) 1. Der Heilige Geist ist am WerkDas ist es, was Gott unseren Gemeinden neu schenken will - eine Erweckung, wie sie um 1800 vielerorts in England begann: "Bis in die höchsten Kreise der Gebildeten und der wohlhabenden Gesellschaft drang das Licht langvergessener Wahrheiten und erwies sich von solch tiefgehender Wirkung, daß viele ihre soziale Stellung, ihren Beruf, ihre Kleidung, ihre Hauseinrichtungen an der Schrift prüften und alles, was nicht mit ... dem von den Menschen verworfenen Heiland in Einklang zu bringen war, darangaben" [ 1 ]. So schildert ein Historiker diese innere durch Gottes Geist entfachte Erneuerung. Ein anderer Geschichtsschreiber berichtet: "In den Häusern der Begnadigten erklangen Lobgesänge, und Menschen aller Stände wurden mutige Zeugen Jesu Christi'" [ 2 ]. Vorausgegangen war eine allgemeine Unzufriedenheit unter den Christen über die Erstarrung der anglikanischen Nationalkirche, die von dem Vernunftglauben der Aufklärung und von ihrer aufgeblähten Ämter-Hierarchie derart geprägt war, daß sie den Kontakt zum Volk immer mehr verlor. Diese Enttäuschung bewirkte eine Sehnsucht nach dem echten Wort Gottes. Eine Offenheit vieler Gläubigen für den Heiligen Geist ging Hand in Hand mit einer neuen Aufgeschlossenheit für das Reden Gottes in seinem Wort. "Gottesfürchtige Männer kamen aufgrund eifrigen Forschens in der Schrift zu dem Schluß, daß sie nicht länger in der Kirche verbleiben konnten, wenn Sie nicht dem, was ihnen aus Gottes Wort klar geworden war, ungehorsam sein wollten" [ 3 ]. 2. Die Geburtsstunde der BrüderbewegungIn Dublin bildete sich ein Kreis erweckter Brüder, deren geistlicher Führer, der Zahnarzt Anthony Norris Groves (1795-1853), ungewöhnlich neue Gedanken äußerte. Er wagte im Frühjahr 1827 den Vorschlag, unabhängig von der Nationalkirche das Mahl des Herrn zu feiern. Er war überzeugt, "daß Gläubige, die sich als Jünger Christi versammeln, frei seien, das Brot miteinander zu brechen, wie ihr Herr es ihnen anvertraut hat" [ 4 ]. Da jedoch alle Mitglieder der anglikanischen Kirche waren, wollten sie noch keine praktischen Konsequenzen aus ihren neuen Schrifterkenntnissen ziehen. Im November des Jahres 1927 führte ein Rechtsanwalt namens John Gifford Bellett (1795-1864) einen ehemaligen Studienkollegen, John Nelson Darby (1800-1882), in ihren Gesprächskreis. Letzterer mußte sich durch einen Reitunfall bei seinen Diensten als anglikanischer Priester einer Beinbehandlung in Dublin unterziehen. In diesen zwei Monaten der Ruhe studierte er intensiv die Bibel. Dabei fand er schließlich die seit Jahren ersehnte Heilsgewißheit: "Endlich gab mir Gott zu verstehen, daß ich in Christus war, vereint mit ihm durch den Heiligen Geist" [ 5 ]. Kurz darauf legte er sein Amt als anglikanischer Geistlicher nieder [ 6 ]. Durch diese umwälzende Heilserfahrung und durch seine tiefgründige Bibelkenntnis fand er in seinen neuen Freunden in Dublin eine bereitwillige Hörerschaft. In diese Zeit des Umbruchs gehört jenes denkwürdige Gespräch zwischen Groves und Bellett: "Als ich (Bellett) eines Tages mit ihm (Groves) spazierenging und wir die Lower Pembroke Straße durchschritten, sagte er: Dies ist ohne Zweifel Gottes Wille mit uns, daß wir als Jünger in aller Einfachheit zusammenkommen und weder auf eine Kanzel noch auf einen Pfarrer Wert legen sollten, sondern darauf vertrauen, daß der Herr auferbauen will, indem er uns aus unserer Mitte zu unserem Nutzen dient, wie er es für gut erachtet...' Dieser Augenblick - ich erinnere mich an ihn, als sei es erst gestern gewesen, ja, ich könnte genau die Stelle zeigen - bedeutete die Geburt meines Geistes" [ 7 ]. In Dublin entstanden mehrere solcher Zirkel unabhängig voneinander, und ein reger Austausch entwickelte sich. Im November 1829 schlug ein Bruder namens Hutchinson vor, in seinem Haus zusammenzukommen, um das Mahl des Herrn zu feiern. Dieses Zusammentreffen der Freunde Hutchinson, Bellett, Darby und Dr. Cronin "gilt mit Recht als Geburtsstunde der Brüderbewegung" [ 8 ]. Wir verspüren die lebendige Frische und das tiefe Bewußtsein der Gegenwart Jesu in dem Bericht Dr. Cronins: "Wir rückten an den Samstagabenden die Möbel beiseite und stellten den schlichten Tisch mit seinem Brot und Wein auf. Es waren Zeiten der Freude, die man nie vergessen kann, denn wir waren uns der freundlichen Zustimmung des Meisters am Anfang dieser Bewegung bewußt!" [ 9 ]. In den Berichten wird an keiner Stelle erwähnt, ob Frauen diese erste Mahlfeier ebenfalls miterlebt hatten. Als der Kreis der Brüder immer mehr wuchs und das Zusammengehörigkeitsgefühl stärker wurde, willigten sie darin ein, ihrer Gemeinschaft einen öffentlichen Charakter zu verleihen. So finden wir die erste Gemeinde der Brüderbewegung in Dublin, der Hauptstadt Irlands. Da Darby wegen der starken Verbreitung seiner Schriften die Brüderbewegung in lehrmäßiger Hinsicht am nachhaltigsten prägte, seien einige Anmerkungen über ihn persönlich beigefügt 3. Einige Merkmale der Persönlichkeit DarbysSein starker WilleWo gibt es heute unter der jungen Generation solch einen entschiedenen Jünger Jesu, wie wir ihn in dem jungen Darby finden? Obwohl er als Neunzehnjähriger schon eine außerordentliche Auszeichnung wegen seiner raschen Fortschritte als Student der klassischen Sprachen erhielt, verzichtete er mit 22 Jahren auf die angebotene Karriere als Rechtsanwalt, weil er Gott allein dienen wollte. [ 10 ] Er entsagte allem Wohlstand, den er sich leicht hätte aneignen können, um sich in unermüdlicher Liebe als anglikanischer Priester für die Bergbewohner Irlands aufzuopfern. Oft kam er nach seinen Besuchen völlig erschöpft erst gegen Mitternacht in seine einsame Berghütte zurück. Wegen seiner brennenden Hingabe und seiner ärmlichen Kleidung hielt ihn die Bevölkerung für einen "wirklichen alten wiederauferstandenen Heiligen" [ 11 ]. So war er ein Mann mit starkem Willen. "Er war ein Eisenkopf", sagte eine alte Christin über ihn [ 12 ]. Seine anglikanisch-kirchliche PrägungDarby war verständlicherweise von der anglikanischen Kirche beeinflußt und konnte sich auch später nicht ganz davon freimachen. Weil die geistliche Armut der Kirche mit ihren Verfallserscheinungen durch ein Übermaß an Organisation verdeckt wurde, verwarf Darby mit dieser Kirche auch alles, was nach "Organisation" aussah [ 13 ]. So betrachtete er jede "Organisation" als ein Zeichen des Abfalls und der Endzeit; ohne dabei einzuräumen, daß es auch schriftgemäße, dem Wirken des Heiligen Geistes entsprechende "Organisation" bzw. Ordnungen gibt (1. Kor. 14, 33.40; Kol. 2,5 b). Als anglikanischer Priester glaubte er völlig an die Lehre, daß die Autorität, Gemeindeämter einzusetzen, von den Aposteln bis zu den jetzigen Amtsträgern ununterbrochen übertragen wurde (Sukzessionslehre). Auch nach seinem Kirchenaustritt war dieses Denken bei ihm nicht ganz überwunden: Er war davon überzeugt, daß nur die Apostel und ihre dazu beauftragten Nachfolger die göttliche Vollmacht der Ämter-Einsetzung besaßen. Weil aber diese Reihenfolge der Vollmachtsübertragung von den Aposteln über ihre Nachfolger bis heute hin durch den Verfall der Kirche zerstört sei, gäbe es nun keinen mehr mit der Autorität, Gemeindeämter, wie z. B. Älteste, einzusetzen. Das Ältestenamt heute wieder einzuführen würde die Beantwortung der Frage nötig machen, "wer heute Autorität über die gesamte Kirche besitzt". [ 14 ] Ein einzelner dürfe sich solch einen päpstlichen Anspruch nicht anmaßen. Deshalb sei eine Wiedereinführung dieser Ämter unmögliches. [ 15 ] Auch hatte Darby durch die vielen prunkvollen Amtsweihen und die überbetonte Ämter-Hierarchie derartig negative Erfahrungen gesammelt, daß er jedes Gemeindeamt als Anzeichen des Verfalls empfand [ 16 ] . Sein juristisches DenkenDarby hatte, wie zwei andere Persönlichkeiten der Brüderbewegung, Bellett und Wigram, die Ausbildung als Rechtsanwalt abgeschlossen. [ 17 ] Beide hatten ihn während des Jurastudiums kennengelernt und blieben ihr Leben lang auf seiner Seite. Vielleicht hat besonders die Gleichartigkeit ihres rechtlichen Denkens sie zusammengehalten - gerade hinsichtlich komplizierter Fragen der Gemeindezucht und der Zulassung zum Brotbrechen. Ob dieses juristische Denken mit dazu beitrug, daß für Darby die Gemeinschaft unter Gläubigen mehr auf der abstrakten Ebene der Lehre basierte als auf der konkreten Ebene personaler Begegnung und erfahrener Vergebung in herzlicher Bruderschaft? Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang, daß ihm die Richtigkeit seiner Lehre und die daraus folgende Trennung von Andersdenkenden wichtiger war als der Wert brüderlicher Freundschaft an sich - auch bei unterschiedlicher Lehrmeinung [ 18 ]. Seine Unbeirrbarkeit1832 schien eine Art Verlöbnis zwischen ihm und einer gewissen Lady Powerscourt zustande gekommen zu sein, das er kurz darauf wieder löste, da er im Dienste für Gott nie seßhaft werden könne [ 19 ]. Man wird fragen können, ob es ihm vielleicht nicht gerade an der nötigen Ergänzung gefehlt hat. Wenn schon die Partnerschaft in der Ehe wegfällt, dann ist um so mehr eine Bruderschaft nötig, in der seelsorgerliche Korrektur und Ergänzung erfahren wird. Aber daran wird es gemangelt haben, nicht auch zuletzt infolge seiner rastlosen Reisetätigkeit. Seine Freundschaften mit bestimmten Brüdern hielten immer nur solange an, wie sie seine Lehrauffassung teilten [ 20 ]. 1845 trennte er sich von John Newton, 1849 von Georg Müller, in derselben Zeit von Anthony Groves [ 21 ]), um 1880 - also zwei Jahre vor seinem Sterben - von Dr. Cronin [ 22 ]. Dieser besuchte, kurz bevor letzterer starb, seinen alten Freund Darby. Dabei soll Darby Reue empfunden haben [ 23 ]. 1881 verlor er nach 36jähriger Freundschaft seinen engsten Mitarbeiter, William Kelly, den Herausgeber der "Collected Writings" ("Gesammelte Werke") Darbys [ 24 ]. Auch Andrew Miller, der Verfasser der dreibändigen "Allgemeinen Geschichte der christlichen Kirche", arbeitete nach 30jähriger Freundschaft nicht mehr mit ihm zusammen. Dennoch blieb Darby unbeirrbar: "Ich bin überzeugt, daß wir dem Grundsatz und der Praxis nach recht haben; unsere Position ist die einzig wirklich schriftgemäße Position [ 25 ]." 17 Monate vor seinem Sterben schrieb er: "Angesichts meines Abscheidens wird eine Änderung mit mir vorgehen, aber nicht im Blick auf die Lehre und meine Ansichten ... Es ist ein lieblicher Gedanke, daß alles, was ich gelehrt habe, in Gott geschehen ist [ 26 ]." Auf seinem Sterbelager "diktierte er .... daß ihm nichts bewußt sei, was er als Lehrer widerrufen müsste [ 27 ]". 4. Die Auseinandersetzung zwischen Darby und NewtonIn Plymouth entstand um 1830 eine große Brüderversammlung. Mit der Zeit wurde B. W. Newton der führende Lehrer dort. Er arbeitete zusammen mit Darby, der aber oft durch viele Reisen an der beständigen Betreuung der Gemeinde gehindert war. Wegen dieser Reisetätigkeit und der Größe der Gemeinde hatte Newton mit Darbys Zustimmung die Leitung der Gottesdienste übernommen [ 28 ]. Bezüglich der Abendmahlszulassung war Darby anfangs sehr offen, wie ein Brief des Jahres 1831 zeigt: "Mehr als einmal haben wir selbst mit Pfarrern der Nationalkirche am Montagabend das Brot gebrochen [ 29 ]." Sogar noch im Sommer 1839 schreibt er: "Wo Christus eine Person aufgenommen hat, solche nehmen wir auf. Daß falsche Brüder sich nebeneinschleichen können, ist möglich. Ist aber die Gemeinde geistlich, so werden solche bald offenbar werden [ 30 ]." Das waren die Grundsätze, in denen die Brüder von Anfang an übereinstimmten. Während jedoch Darby von 1837 bis 1838 in der Schweiz und später von Spätherbst 1839 bis Juli 1843 erneut in der Schweiz und dann auch in Frankreich weilte , änderte er diese Einstellung, was Groves in einem Brief an ihn schon sehr früh bemerkt hatte: "Ihre Vereinigung wird täglich mehr eine solche der Lehre und der Ansichten als eine des Lebens und der Liebe werden... Licht und nicht Leben wird zum Maßstab der Gemeinschaft gemacht [ 31 ]." Die rechte Lehre war also im Begriff, zum Maßstab für die Zulassung zum Tisch des Herrn zu werden. Dies bestätigte sich in den folgenden Jahren. 1845 warf Darby Newton vor, er habe in der Versammlung in Plymouth einen starren Dogmatismus eingeführt [ 32 ]. Am 28. Dezember 1845, als Darby keine Entscheidung dieser Versammlung gegen Newton durchsetzen konnte, trennte er sich von ihr wegen bestimmter organisatorischer Maßnahmen dort, wie z. B. der Vereinbarung, wer wann predigen würde [ 33 ]. Er gründete mit ca. 50 bis 60 Gläubigen in Plymouth eine eigene Versammlung, obwohl ihm ein enger Freund namens Hall dringend davon abgeraten hatte [ 34 ]. Im Juli 1847 las Darby die Veröffentlichung einer Predigt Newtons, die falsche Lehren über das Leiden Christi aufwies. Obwohl Newton vier Monate später diese Lehren in einer Schrift öffentlich widerrief, betrachtete Darby dies als einen unehrlichen Schritt und verweigerte jedem, der unter dem Einfluß dieser Lehren gestanden hatte, die Aufnahme in seine Versammlung [ 35 ]. Auch die anderen Versammlungen in England und Irland, die sich zu Darby hielten und seit etwa 1840 von London aus zentral geleitet wurden, mußten in gleicher Weise vorgehen [ 36 ]. 5. Darbys Reaktion auf die Gründung der Evangelischen AllianzWährend nun Darby in Plymouth eine Trennung veranlaßte, trafen sich in London 921 führende Persönlichkeiten der Erweckungsbewegung, die eine überkonfessionelle Einheit der Gläubigen erstrebten, 1846 zur Gründungsversammlung einer weltweiten Evangelischen Allianz. Sowohl Darby als auch die Evangelische Allianz gingen zwar davon aus, daß die Einheit des Leibes Christi schon vorhanden sei und deshalb nicht organisiert zu werden brauche. Es käme nur darauf an, sie auch zu bekennen und darzustellen. Jedoch in der Art dieser Darstellung unterschied er sich von der Allianz: "Er sah die Darstellung der Einheit in der Trennung vom Bösen [ 37 ] - siehe Plymouth-Trennung -, die Allianz hingegen war von dem Wunsch nach sichtbarer Einheit aller Kinder Gottes bestimmt. In ihrem Beschluß von 1846 hieß es: "Die Absicht unseres Zusammenkommens ist nicht, eine ... Einheit erst zu schaffen, sondern nur dieselbe zu bekennen. Da wir in Wahrheit eins sind, so wünschen wir auch, soviel als möglich sichtbarlich eins zu werden [ 38 ]." Auf dieser Konferenz wirkte der Heilige Geist ein tiefes Erschrecken darüber, daß man in der eigenen Gemeinde negativ und überheblich über die Gläubigen anderer konfessioneller Gruppen geurteilt hatte. "In mancher Versammlung wurde der Bußton tonangebend [ 39 ]." Darby äußerte sich im selben Jahr leider sehr ablehnend zu dieser Allianzbewegung: "Außer einer großen alljährlichen Versammlung, einer Menge Gerede und einiger örtlicher Lese-Versammlungen, von denen die Quäker ausgeschlossen sind, die sogenannten Plymouth-Brüder (d. h. Versammlungen um Darby) und - aus dem einen oder anderen Grund - der größte Teil der Christen, tut diese "Allianz" so gut wie nichts [ 40 ]." 6. Die Trennung in "Offene" und "Exklusive Brüder"Darby pflegte Kontakt zu einer Versammlung in Bristol - als Bethesda-Gemeinde bekannt -, die besonders unter dem Einfluß Georg Müllers stand. Im April 1848 baten nun zwei Brüder namens Woodfall aus der Versammlung Newtons in Plymouth um Aufnahme in die Bethesda-Gemeinde in Bristol. Drei Anhänger Darbys aus der Bethesda-Gemeinde lehnten das wegen deren Kontakte zu dem "Irrlehrer" Newton ab. Diese drei wurden deshalb gebeten, die Brüder Woodfall zu prüfen. Beide erwiesen sich dabei als gesund im Glauben und wurden zum Brotbrechen zugelassen. Als kurz darauf Darby von Georg Müller gebeten wurde, in Bristol an einem kommenden Sonntag zu predigen, lehnte er ab, da er schon andernorts zugesagt habe. Einige Zeit später schrieb er an Müller, daß der eigentliche Grund seiner Ablehnung die Aufnahme der beiden "Parteigänger Newtons" gewesen sei. Einer jener drei Anhänger Darbys namens Alexander erfuhr nun von dem Inhalt dieses Briefes und behauptete deshalb in einer Streitschrift, daß in Bethesda als unmittelbare Folge der Zulassung der Woodfalls verschiedene "Übel" aufgetreten seien [ 41 ]. Daraufhin verfaßten Müller und neun weitere Brüder ein Antwortschreiben, in welchem sie erklärten, "daß niemand, der Herrn Newtons Ansichten oder Abhandlungen verteidigte, unterstützte oder aufrechterhielt, in die Gemeinschaft aufgenommen werden soll [ 42 ]". Jedoch seien sie nicht berechtigt, diejenigen zurückzuweisen, die seine Lehren lediglich gehört, aber nicht bejaht hätten [ 43 ].
"Diejenigen, die Personen von Bethesda aufnehmen, identifizieren sich dadurch mit dem Bösen ... Ich für mein Teil könnte weder nach Bethesda in seinem gegenwärtigen Zustand gehen noch, solange es in diesem Zustand ist, dahin gehen, wo Personen, die von dorther kommen, bewußt zugelassen werden". [ 45 ] Hier wurde nun erstmalig Darbys "exklusive" Abendmahlslehre formuliert, wie sie sich bei ihm seit den Auseinandersetzungen mit Newton allmählich entwickelt hatte: Bei der Zulassung dürfe man sich nicht wie bisher nur auf die Prüfung beschränken, ob die betreffende Person selbst frei von falschen Lehren sei, sondern auch deren eventuelle persönliche Verbindungen zu einem Irrlehrer oder einer abzulehnenden Gemeinde müßten ebenso untersucht werden. Im Gegensatz dazu verblieb die Bethesda-Gemeinde zusammen mit vielen anderen Versammlungen bei der ursprünglichen "offenen" Zulassungspraxis, wie wir sie noch bei dem früheren Darby finden [ 46 ].
Innerhalb der Versammlungen, die sich zu Darby hielten, vollzogen sich nun eine Reihe von Abspaltungen: 1860 die Stewart-Trennung, 1866 die Ryan-Trennung, 1879 die Dr.-Cronin-Trennung usw. In den USA trennten sie sich - hier bekannt als "Plymouth-Brethren" - in acht verschiedene Hauptgruppierungen. [ 47 ] Der Jurist J. A. von Poseck, der zusammen mit John Darby und Carl Brockhaus die deutsche Übersetzung des Neuen Testaments anfertigte (Elberfelder Übersetzung, 1975 revidiert) und die "Kleine Sammlung geistlicher Lieder" zusammenstellte, schrieb zu den entstehenden Trennungen in England: "Hier befinden wir uns auf dem geraden Weg nach Rom! Nur daß wir statt eines unfehlbaren Papstes eine unfehlbare Versammlung haben [ 48 ]." 7. Der missionarische Aspekt in der BrüderbewegungSchon nach Darbys innerer Wandlung in der Schweiz trat der Missionsgedanke zurück. Fast sein gesamtes Wirken galt statt dessen nun dem Ziel, die verstreuten Kinder Gottes als gläubigen Rest zur Einheit des Leibes Christi zu versammeln [ 49 ]. Wegen dieser zurückgehenden Missionstätigkeit und der vielen Trennungen läßt sich deshalb nur in dieser "Sammlung" der Gläubigen ihr zahlenmäßiges Wachstum erklären, welches in England zu beobachten war. Der deutsche Zweig der Brüderbewegung entstand und entwickelte sich relativ unabhängig von den englischen "Brüdern" und blieb weitgehend von Trennungen verschont. Er wurde bekannt als die "Elberfelder Brüder" bzw. die "Christliche Versammlung". Erfreulicherweise übernahmen sie diese Unterbewertung der Mission nicht in dem Maße wie die englischen Brüder um Darby. Denn führende Brüder wie Carl Brockhaus, Georg von Viebahn und Emil Dönges waren überaus eifrige Zeugen des Evangeliums. Hinsichtlich des Beitrags für die heutige Entwicklung der weltweiten Gemeinde Jesu wirkten die "Open Brethren" in England und die deutschen "Offenen Brüder" weit über die Brüderbewegung hinaus in viele bibelgläubige Kreise: Georg Müller, ein enger Freund Hudson Taylors, beeinflußte den amerikanischen Erweckungsprediger Moody in nachhaltiger Weise. Sein Glaubensleben ist bis heute ein Ansporn für die Gläubigen geblieben. Fast 30 Millionen Mark erhielt er für sein Waisenhaus allein im Vertrauen zu seinem Herrn. Dr. Friedrich W. Baedecker wurde so vollmächtig von Gott in Rußland und anderen Ländern gebraucht, daß an vielen Orten Erweckungen entstanden. Er trieb zusammen mit dem bekannten Evangelisten Georg von Viebahn und anderen Brüdern das Anliegen der Allianz in Deutschland voran. Johannes Warns hatte als Mitbegründer und Lehrer der Bibelschule Wiedenest einen weiten Wirkungskreis. Erich Sauer beeinflußte durch seine Bücher, die in 17 Sprachen übersetzt sind, die biblisch-heilsgeschichtliche Sicht vieler Reichsgottesarbeiter. Wir haben allen Grund, Gott für alle diese Brüder unserer Geschichte zu danken, die uns ungeachtet mancher menschlicher Schwächen ein Leben des Glaubens und der Hingabe vorlebten. Brüderliche Einmütigkeit hat in der Apostelgeschichte immer mit dem Wirken des Heiligen Geistes zu tun. Ein Mangel an dieser Einmütigkeit ist deshalb ein Anzeichen dafür, daß wir noch nicht alle unsere Lebensbereiche dem Geist Gottes untergeordnet haben. Je mehr wir uns in allem unter seine Herrschaft stellen, desto tiefer kann er uns diese Einmütigkeit schenken und so Wunden der unbewältigten Vergangenheit durch die Bereitschaft zur Vergebung heilen. © 1977 Joachim Orth. Alle Rechte vorbehalten.
| zum Textbeginn |
Copyright (C) 1977 by Joachim Orth. Alle Rechte vorbehalten.
|