TONI VON BLÜCHER (1836 - 1906)Eine Glaubenszeugin in Berlin
Von Erich SAUER, Wiedenest, 1936 [ 1 ]
Geistliche Erweckungszeiten Ende des 20. JahrhundertsAm 14. April 1933 waren im Saal der Christlichen Gemeinde Berlin, Hohenstaufenstr. 65, viele Hunderte zu frohem Feste versammelt. Dankbare Rückblicke wollte man tun auf lange Jahre wunderbarer Gottesführungen, die der Herr an dieser Stätte dem Zeugnis der Seinen hatte zuteil werden lassen; waren es doch gerade 50 Jahre her, seit in kleinen, bescheidenen Anfängen ein Werk begonnen worden war, das senfkornartig gewachsen und Hunderten, ja Tausenden von Seelen zu bleibendem Segen geworden war. Es war im Jahre 1875. Eine große Glaubensbewegung ging durch die Lande. Männer wie Dwight L. Moody, Ira D. Sankey, Robert Pearsall Smith, und vor ihnen Charles Finney, verkündeten das Heil in Christo. Besonders war es die Freudenbotschaft von einem siegreichen Leben, von der Heiligung durch den Glauben, die mit göttlicher Geisteskraft dem Volke Gottes neu vor die Augen gestellt wurde. Völlige Hingabe an den Herrn und Befreiung nicht nur von der Schuld, sondern auch von der Macht der Sünde: das waren Gedanken, die Tausenden diesseits und jenseits des Ozeans wie helle Lichtstrahlen ins Herz fielen und sie aus matter Oberflächlichkeit, erfahrungsarmer Alltäglichkeit oder gesetzlichem Heiligungsstreben herausrissen und zu dem Erlebnis des gegenwärtigen, völligen Heils in Christo emporführten, wo die Heiligung nicht ein mühseliges Machwerkt der eigenen Kraft ist, sondern ein göttliches Wirken des auferstandenen und verklärten Christus. "Jesus errettet mich jetzt!" - das war der Mittelpunkt der Botschaft. Entschiedenere Hingabe, höhere Ziele, tägliche Heiligung, freudigere Energie und lebendigere Frische, und das alles in Christo, dem Heiland von heute und jetzt; das war die Botschaft, die, besonders von Oxford (England) ausgehend, siegreich vordrang und viele zu einem ganz neuen Heilserlebnis führte. Robert Pearsall Smith und Friedrich Wilhelm Baedecker in Berlin (1875)
Nun machte in jenen Tagen ein englischer Lord, namens Radstock, einen flüchtigen Besuch in Berlin, und in der kurzen Zeit seines dortigen Zusammenseins mit führenden Männern des geistlichen Lebens kam man zu dem Entschluß, Robert Pearsall Smith nach Berlin einzuladen. Namentlich der Hofprediger W. Baur und andere setzten sich für diese Glaubensversammlungen ein. Kaiser Wilhelm I. gab die Erlaubnis, daß sie in der (alten) Garnisonskirche stattfinden durften [ 2 ], und da in jenen Tagen gerade Dr. Friedrich W. Baedeker, ein Vetter des bekannten Herausgebers von Baedekers Reisehandbüchern, der neun Jahre zuvor durch Lord Radstock in England zum Glauben geführt worden war, in Berlin weilte, wurde er gebeten, die Dolmetschung zu übernehmen. Die Art der Verkündigung, nach Inhalt und Form den meisten neu, zog viele an, und auch aus den Kreisen des Adels bekannten sich nicht wenige zum Herrn. Baedeker übersetzte mit Geist und Kraft, und als Pearsall Smith Anfang April [ 3 ] zu weiterem Dienst nach Basel abgereist war, setzte er die Versammlungen in Berlin noch allein fort. Bei einer dieser Versammlungen war auch ein Fräulein Toni von Blücher, eine Großnichte des aus den Freiheitskriegen bekannten Feldmarschalls Blücher, anwesend. Sie war damals 39 Jahre alt (geboren zu Stolp in Pommern am 23. Juli 1836). Obwohl schon von ihren Großeltern in christlichem Geist erzogen und dann später in Berlin von ihren Tanten in geistlicher Hinsicht sehr stark beeinflußt, war sie doch noch nicht zum vollen Frieden hindurchgedrungen, ja im Ringen darnach oft von furchtbaren Zweifeln gequält. Bekehrung der Toni von Blücher - 14. April 1875Nun sprach Dr. Baedeker am 14. April in der Garnisonkirche über das Thema: "Was der heilige Geist tut, um das Opfer Christi klar und kräftig zu machen". Das war für sie, die gerade damals wieder schwere, innere Kämpfe durchmachte, eine Botschaft der Gnade und Wahrheit, die ihr der heilige Geist tief einprägen konnte. Sie ging nach Hause, zog sich in ihr Zimmer zurück und rang darnach, daß sie durch die enge Pforte eingehen möge. "Herr, jetzt oder niel" rief sie aus, und der Herr gab Gnade zum Durchbruch. Als neue Kreatur in Christo Jesu stand sie von ihren Knien auf, und ein neues Leben freudigen Dienstes für den Meister begann. Sie selbst schrieb 1890: "Da ich Gottes Gnade an mir selbst erfahren hatte, konnte ich nicht stille sein; die Dankespflicht meinem Heiland gegenüber trieb mich, Ihm auf irgend eine Weise zu dienen." Ihr väterlicher Freund und Berater Dr. Baedeker führte sie bald in das Vorrecht des Dienens im Werke des Herrn ein. Ihre erste Arbeit war Traktateverteilen. Das war ihr zuerst nicht leicht. Sie selbst sagt darüber: "Sehr zaghaft begann ich, mit großer Überwindung, auf der Straße Traktate zu verteilen". Bald kamen neue Aufgaben dazu. Dr. Baedeker richtete besondere Tee- und Kaffeeversammlungen ein, um die dem Reiche Gottes noch Fernstehenden leichter zu erreichen. An diesen beteiligte sich auch Frl. von Blücher, und allmählich bildete sich hieraus ein ganz kleiner Kreis ärmster Leute, die sie alle 14 Tage in ihrem Hause zur Bewirtung mit Kaffee und darauffolgendem Bibellesen versammelte. Da sie aber fürchtete, daß in diesen Zusammenkünften das Wort Gottes nicht genug im Mittelpunkt stehe, gab sie dieselben bald auf und versuchte mehrmals, Kinder zu einer Sonntagsschule zu sammeln. Doch auch da mißlangen die ersten Bemühungen, und der Gedanke kam in ihr auf, daß Gott sie überhaupt nicht zu einer solchen Arbeit berufen habe. So ist es zu verstehen, daß sie doppelt zurückhaltend war, als man ihr nach einiger Zeit die Übernahme einer Versammlung von Frauen der ärmeren Stände bei Näharbeit und Bibellesen vorschlug. Ihr lag durchaus daran, den Willen Gottes zu tun, und so schlug sie zunächst die wiederholt an sie herangebrachten Bitten ab. Endlich aber, nach langem Ringen im Gebet, erhielt sie das Wort: "Ich will mit deinem Munde sein" (2. Mose 4,12), und das gab ihr Mut und Freudigkeit, die angebotene Arbeit als Auftrag vom Herrn anzunehmen. Zwar fristete auch diese zunächst noch, wie sie selbst schreibt, ein kümmerliches Dasein; aber dennoch lag hier, nach ihrem eigenen Urteil, der eigentliche Anfang ihrer Arbeit. Bekehrungen fanden allerdings auch jetzt noch nicht statt; aber ihr Mut wuchs, und das innere Leben der ganzen Arbeit nahm zu. Beginn einer Kinderstundenarbeit (1881)Da kam im Jahre 1881 ein Fräulein von Rydt aus Gernsbach auf einige Monate nach Berlin. Es war gerade um die Weihnachtszeit. Auf den Straßen waren hier und da Kinder zu sehen, die Spielsachen verkauften. Dieser armen Kleinen nahmen sich beide an und luden sie ein, am Sonntag zu ihnen zur Sonntagsschule in die Wohnung zu kommen. Am ersten Sonntag waren es fünf, am zweiten neun. Von da an nahm die Sonntagsschule dauernd zu, so daß Frl. von Blücher nach der Abreise ihrer Freundin eine regelmäßige Kinderstunde mit ungefähr 30 Schülern übernehmen konnte. Auch später wuchs die Arbeit fort, und im Jahre 1890 betrug die Anzahl der Kinder bereits 400. Zugleich nahm schon im Jahre 1882 der Besuch der Frauenstunde dermaßen zu, daß die Räumlichkeiten der Privatwohnung nicht mehr genügten. Man wartete noch eine längere Zeit; dann entschloß man sich, die inzwischen frei gewordene Parterrewohnung im selben Haus hinzuzumieten. Doch fehlten noch 200 Taler für die jährliche Miete. Daran, ob sie zur rechten Zeit zur Verfügung stehen würden, glaubten sie, ein Zeichen vom Herrn erkennen zu dürfen, ob die Arbeit nach Seinem Willen sei oder nicht. Der entscheidende Tag nahte. Die Sache wurde als strengstes Geheimnis untereinander bewahrt; doch vereinigte man sich im Gebet. Da, kurz vor dem letzten Entscheidungstermin, wurde ihr von befreundeter Seite genau die erbetene Summe von 200 Talern angeboten. Der Herr hatte sich zum Gebet und zur Arbeit gnädig bekannt. Einweihung eines Gemeindesaales (1883)So sollte nun im Jahre 1883 der neue Saal am Schöneberger Ufer Nr. 35 eingeweiht werden. Als Zeitpunkt wählte Frl. von Blücher den 14. April, also den 8. Jahrestag ihrer Bekehrung. "Was bin ich und mein Haus, Herr, daß Du mich bis hierher gebracht hast?" (2. Samuel 7,18). So lautete das Schriftwort, das der tägliche Kalender am 14. April jenes Jahres brachte. Das waren auch zugleich die Textworte, die den Grundton zur Einweihungsfeier des kleinen Saales darboten. Überhaupt war das Jahr 1883 für die Geschichte des geistlichen Lebens in Berlin von großer Bedeutung. Seit 1882 hatten von Schlümbach und Graf Pückler in der Reichshauptstadt gearbeitet. Am 12. Januar 1883 war das "Christliche Vereinshaus" in dem bisherigen Tanzlokal "Fürst Blücher" am Wedding, am 22. Januar der "Christliche Verein junger Männer" in der Wilhelmstr. 34 eingeweiht worden. Letzterer war der erste C.V.J.M. in Deutschland überhaupt. Männer wie E. von Rothkirch, Graf Bernstorff und andere waren an der Arbeit. Auch in dem kleinen Saal am Schöneberger Ufer blühte bald das Leben auf. Zuerst fanden regelmäßige, öffentliche Versammlungen noch nicht statt; doch dann wurde das Verlangen nach solchen immer lebhafter. Schließlich wurde am Sonntag oft zwei-, ja dreimal das Wort verkündet, und die Versammlungen nahmen derart zu, daß es oft sehr an Platz fehlte und die Leute gelegentlich vor den Fenstern und auf der Straße standen. Besonders wurde auch die Einheit der Kinder Gottes praktisch ausgelebt. Oft hatte man die Freude, von durchreisenden Brüdern besucht zu werden. Dr. Baedeker aus England, Georg Müller aus Bristol (ebenfalls England), Ernst Gebhardt, der bekannte Liederdichter, Inspektor Rappard aus Basel, von Schlümbach aus Amerika, Otto Stockmayer aus der Schweiz und viele andere dienten gar oft mit dem Wort. Besonders war man mit Julius Rohrbach und seiner "Evangelischen Missionskapelle" in Charlottenburg verbunden. Die Kinder kamen in Scharen zur Sonntagsschule. Für die Mädchen von 4-14 Jahren wurde eine Näh- und Strickschule begonnen. Besonders gesegnet war die Mütterversammlung, eine Arbeit für Frauen mit geistlicher Lektüre und biblischen Besprechungen. Frl. v. Blücher schreibt: "Hier hatten wir zuerst die Freude, zu sehen, wie durch Gottes Wort Seelen aus dem Tode zum Leben kamen, und wie sich von hier aus der Segen auf die öffentlichen Versammlungen verbreitete". Weiterhin wurde eine Weihnachtsfeier für die Sonntagsschüler ins Leben gerufen, welche nun alljährlich in immer größeren Sälen stattfand. Auch hier war der erste Anfang der Bescherung eine sichtliche Führung Gottes. Frl. von Blücher und ihre 80jährige Tante hatten die Frage, ob sie bescheren sollten oder nicht, fünf Wochen vor Weihnachten vor den Herrn gebracht, da es ihnen an den erforderlichen Mitteln gänzlich fehlte. "In einer Nacht, ganz kurz vor Weihnachten", so erzählt sie, "brachte ich die Sache noch einmal ganz besonders ernst vor den Herrn und wartete auf Ihn. Da kam noch in der Morgenfrühe eine mir wohlbekannte Dame und brachte mir die erbetenen 100 Mark. Gott habe es ihr in der vergangenen Nacht so ernst aufs Herz gelegt, mir diese Gabe zu bringen, daß sie eilends habe gehorchen müssen". Einweihung eines neuen Saales in der Bülowstraße (1888)So wuchs die in aller Stille und mit großer Schwachheit begonnene, aber im Aufblick zum Herrn weitergeführte Arbeit immer mehr, so daß sie schließlich nicht länger in den engen Räumen des Saales am Schöneberger Ufer bleiben konnte. Dazu kam, daß der Hauswirt im Winter 1888 auf sehr unliebsame Weise die Kündigung aussprach, und so war es wieder eine Zeit viel inneren Kampfes und ernster Selbstprüfung, was des Herrn Wille sei. Zwar wurde wieder ein neuer Saal in Erwägung gezogen - es war ein an offener, verkehrsreicher Straße gelegener Raum -; aber wieder überstieg die jährliche Wohnungsmiete weit die zur Verfügung stehenden Mittel. Doch da war von neuem ein ganz bestimmtes Gotteswort ausschlaggebend: "Lasset uns stark sein für unser Volk und für die Stätte unseres Gottes; es geschehe, wie es Ihm gefällt" (2. Samuel 10,12). So wurde 1888 der Saal in der Bülowstr. 5 gemietet, und von neuem wuchs das Werk Jahr für Jahr, indem begnadete Zeugen aus mancherlei Ländern und von den verschiedensten Kreisen treulich am Aufbau der Gemeinde mitwirkten. Außer den Obengenannten kamen Karl Mascher, Hudson Taylor, Oberstleutnant v. Knobelsdorff, Frh. von Thiele-Winkler, Frh. v. Thümmler, General v. Viebahn und andere. Der Feind schlief allerdings auch nicht. Mit Wort und Schrift wurde gegen die Arbeit gehetzt. Ja; es kam sogar soweit, daß die Leute, welche die Stunden besuchen wollten, auf offener Straße belästigt wurden, ja daß die Sonntagsschule eine Zeit lang polizeilich geschlossen wurde. Doch wurde dieses dem Kultusministerium gemeldet, welches entschied, daß diese Maßregel selbstverständlich nicht aufrecht erhalten werden könne, und mit Dank zu Gott konnten die Gläubigen nun rühmen, daß durch alle diese menschlichen Anfeindungen das ganze Werk nur innere Vertiefungen empfangen und sich dabei die alte Erfahrung bestätigt habe: Menschen gedachten es böse zu machen; Gott aber hat alles wohl gemacht. Auch sonst schenkte der Herr manche Ermutigung und Gebetserhörung. So war einmal an einem bestimmten Abend ein dienender Bruder plötzlich verhindert zu kommen. Frl. von Blücher selbst war krank. Schon waren die Leute versammelt; sie aber konnte von ihrem Krankenlager aus nichts anderes tun, als den Herrn anzurufen: "Herr, Dein Wort sagt: ehe sie rufen, will ich antworten". "Da klopft es, und ein anderer treuer Freund steht da, bereit die Versammlung zu leiten. Gottes Stimme hatte ihn getrieben, aus der eigenen Arbeit heraus zu uns zu kommen, um den Versammelten das Wort Gottes zu verkündigen". So wuchs die Arbeit weiter. Im Jahre 1890 war es schon nicht mehr möglich, auf der Straße Einladungen zu verteilen, da der Raum des Saales es nicht gestattete. Das Bedürfnis nach einem größeren, für ungefähr 350-400 Personen berechneten Versammlunsgsaal mit passenden Nebenräumen wurde immer dringender. Aber wie sollte es möglich sein, einen solchen zu beschaffen? Mit Recht schrieb Frl. v. Blücher: "Das Prinzip, welches uns leitet, ist das, welches der treue Knecht Gottes Georg Müller aus Bristol mir einst einprägte: "Christliche Arbeit sollte nie von Bettelei leben; das hieße, Gott die Ehre rauben. Sie darf aber auch kein nachgemachtes Ding sein, sondern muß den Glaubensblick auf den Herrn gerichtet halten." Aber auch für diese Schwierigkeit wußte der Herr wunderbar Rat. Nur wenige Minuten von dem bisherigen Versammlungsraum entfernt, wurde am damaligen Rande der Stadt eine neue Straße, die "Hohenstaufenstraße", gebaut. Es kam zu Verhandlungen mit dem Erbauer des letzten, direkt am Felde liegenden Hauses, und dieser erklärte sich bereit, auf dem freien Platz hinter seinem Vorder- und Seitenhause einen besonderen Versammlungssaal mit darunter gelegenen, kleineren Nebenräumen zu erbauen, falls ein fester Mietsvertrag auf weit über 10 Jahre abgeschlossen und ein sehr wesentlicher Teil der Miete im Voraus bezahlt werden würde. Vor dem Saal selbst war noch Raum für eine stille Gartenanlage. Die Pläne wurden sogar ganz nach dem Wunsch Frl. von Blüchers und den Bedürfnissen der Arbeit eingerichtet. Für den Saal war hauptsächlich die Bethesdakapelle Georg Müllers in Bristol (England) Vorbild. Einweihung des Saales in der Hohenstaufenstraße (1894)Am 14. April 1894, also wieder an dem geistlichen "Geburtstag" Fräulein von Blüchers, konnte dann in der Hohenstaufenstr. 65 die Einweihung dieses neuen, schönen Saales in Gegenwart einer großen Gemeinde und zahlreicher Freunde stattfinden. Wohl mancher der durch die gedruckten Einladungen neu Hinzugekommenen vernahm hier zum ersten Male in lebendiger Weise die Botschaft vom Kreuz. Dr. Baedeker, Graf Bernstorff und Oberstleutnant v. Knobelsdorff hielten Ansprachen, der Chor sang das Lied: "Ich fand ein paradiesisch Heim" - es war das allererste, ihm von Ernst Gebhardt persönlich eingeübte Chorlied -; und Lob und Dank für vergangene, sowie freudige Erwartung noch zukünftiger Segnungen bildeten den Grundton des frohen Zusammenseins. Die Hohenstaufenstr. 65 ist dann in den folgenden Jahren eine Segensstätte für viele geworden. Besonders fruchtbar waren die "Maiversammlungen", die zuerst andere Brüder, später, Jahre hindurch, General von Viebahn leitete. Zugleich war es eine Stätte, wo priesterliche Seelenarbeit an den einzelnen getan wurde. Treu helfend standen Frl. von Arnim und Frl. von Bunsen mit am Werke. Auch der Judenchrist Naphtali Rudnitzky half mit am Aufbau der Gemeinde. Und über dem kleinen Kreis wurde das Große nicht vergessen. Die Worte, die draußen an der Vorderseite des Saales den Besucher grüßen: "Allzumal Einer in Christo Jesu" waren zugleich das Motto der weltweiten Verbundenheit der Gemeinde mit den Kindern Gottes schlechthin. Regen Anteil nahm Frl. von Blücher auch an der 1886 ins Leben gerufenen "Blankenburger Konferenz". In der Gemeinde dienten Brüder, die auf dem Boden der überkonfessionellen und übernationalen Einheit des Volkes Gottes standen, und zugleich gingen von den Missionsversammlungen gesegnete Anregungen aus bis in die fernste Heidenwelt. "Missionare kamen und berichteten über ihre Erlebnisse und Erfahrungen auf den verschiedenen Arbeitsgebieten; Gaben und Kräfte gingen hinaus in die Ferne, und Brüder und Schwestern, die einst hier in der Gemeinschaft den Herrn gefunden und für Seinen Dienst zubereitet worden waren, standen auf ihren Posten in China, Indien und Amerika" (Rohrbach). Gründung der Bibelschule (1905)Aber noch enger sollte die Arbeit Frl. von Blüchers mit dem Werk der Mission verbunden werden. Um der Glaubensbewegung der schwer verfolgten "Stundisten" und "Evangeliumschristen" in Rußland zu dienen, fand am 11. April 1905 in ihrer Wohnung eine Beratung mehrerer Brüder statt, in der, besonders unter dem Einfluß Dr. Baedekers, beschlossen wurde, eine Bibelschule zu gründen. Dieselbe sollte in erster Linie den russischen Brüdern eine Gelegenheit zur Vorbereitung für den Dienst am Wort unter ihren Volksgenossen geben. Zu den damals anwesenden Gründern der Bibelschule gehörten außer Dr. F. W. Baedeker noch Missionsinspektor Karl Mascher, General von Viebahn, Frh. von Thiele-Winkler, Bernhard Kühn und andere. Ohne von diesen Plänen etwas zu wissen, hatte zwei Monate vorher, am 5. Februar 1905, der Pfarrer von Schildesche bei Bielefeld, Pastor Christoph Koehler, aus Gewissensgründen sein Amt niedergelegt. Von ihm hatten die Brüder gehört, und schon am 12. April konnte ihm Inspektor Mascher mitteilen, daß man ihn einstimmig zum Lehrer und Leiter der neuen Bibelschule gewählt habe. So war es dann wieder gerade der 14. April, also der schon stets so bedeutsame Tag in Frl. von Blüchers Leben und Werk, an dem Br. Koehler seine Berufung an die Bibelschule empfing. Er nahm diese Wahl an und siedelte Ende August von Bielefeld nach Steglitz über. Inzwischen hatte man auch den Kandidaten Johannes Warns, der schon längere Zeit mit Br. Koehler gearbeitet hatte und sich, nach Ablegung seiner beiden theologischen Examina, nicht hatte entschließen können, ein Pfarramt anzunehmen, ebenfalls als Lehrer an die Bibelschule berufen; und so konnte am 5. September 1905 die Eröffnung der Bibelschule stattfinden. Wieder waren es die Räume der Arbeit von Frl. von Blücher, nämlich der Saal der Christlichen Gemeinde, Hohenstaufenstr. 65, wo im Beisein des bekannten Liederdichters Bernhard Kühn und des Generals von Viebahn die Feier stattfand. Mit 18 Schülern konnte der erste Kursus begonnen werden. Toni von Blüchers Heimgang (18. Mai 1906)Doch die Kräfte Frl. von Blüchers nahmen immer mehr ab. Ihre Erwartung der baldigen Wiederkunft des Herrn war zwar so lebendig, daß sie hoffte, vielleicht gar nicht mehr durch den Tod gehen zu müssen; aber die Fürsorge für ihr Lebenswerk und seinen Fortbestand, falls sie trotzdem noch vorher heimgerufen werden sollte, lag ihr dennoch sehr am Herzen. Sie gewann immer mehr die Überzeugung, daß ihr der Herr in den Brüdern Koehler und Warns diejenigen in den Weg geführt habe, welche die Arbeit fortführen würden. Sie bat sie darum, diesen Dienst zu übernehmen, und damit wurde die Verbindung der neugegründeten Bibelschule mit der Blücher'schen Arbeit eine ganz enge und persönliche. So war der Mai des Jahres 1906 gekommen. Die schon ohnehin stets schwachen Kräfte der treuen Magd des Herrn versagten immer mehr. Für den 20. bis 27. Mai waren die Maiversammlungen anberaumt. Dazu fanden als Vorbereitung besondere Gebets- und Weihestunden statt. Doch da, am Freitag, den 18. Mai, rief der himmlische Vater Sein Kind in großem Frieden heim. Ihr Lauf war vollendet. Wie ein über Tod und Grab triumphierender Jubelgesang erscholl sowohl bei der Trauerfeier im Saal als auch nachher am offenen Grabe das hoffnungsvolle Herrlichkeitslied: "Wenn nach der Erde Leid, Arbeit und Pein Ich in die goldenen Gassen zieh' ein, Wird nur das Schau'n meines Heilands allein Grund meiner Freude und Anbetung sein." Die Zeit danachIhr ganzes Vermögen hinterließ die Heimgegangene dem Werke des Herrn, nämlich der Christlichen Gemeinschaft, die sie hatte gründen dürfen. Im Sommer (1906) wurde die Bibelschule in die Nähe der Hohenstaufenstraße verlegt (Speyerer Str. 26), und von dort kam sie im Jahre 1908, nach der käuflichen Erwerbung des ganzen Grundstückes durch die Gemeinde, direkt in die Hohenstaufenstraße 65 selbst. Dort haben dann die Brüder Koehler und Warns jahrelang, bis zur Verlegung der Bibelschule nach Wiedenest (Rheinland) im Jahre 1919, den Dienst versehen, und von den Räumen, die durch die Lebensarbeit Frl. von Blüchers dem Werk des Herrn geweiht waren, und von dem Dienst und der Zusammenarbeit der Brüder und Schwestern sind, durch die Gnade des Herrn, Segnungen ausgegangen bis in die fernsten Fernen. Wenn Frl. von Blücher auch nicht eigentlich direkt die Gründung der Bibelschule entscheidend mitbewirkt hatte, so war doch durch diese ganze Entwicklung eine Verbindung allerengster Art zustandegekommen. "Einige hundert Brüder haben bis jetzt am Unterricht der Bibelschule teilgenommen, viele aus Rußland und Deutschland, nicht wenige aus den Ländern Südosteuropas, einzelne aus anderen Ländern Europas. Sie stehen heute in der Arbeit in Rußland, Sibirien und den anderen ehemals russischen Gebieten, in Polen, in der Tschechoslowakei, in Ungarn, Rumänien, Bulgarien, in der Schweiz und in Deutschland, einzelne auch in Norwegen, Dänemark, Frankreich, England, Kanada, den Vereinigten Staaten Nordamerikas, in Südamerika, in Syrien (Damaskus), Palästina (Jerusalem), Persien, auf Java und in Afrika. Einige von ihnen arbeiten in der Mission unter Muslimen, andere unter dem Volk IsraeI, andere unter den Heiden. Manche widmen ihre ganze Zeit dem Werke des Herrn, andere arbeiten neben ihrem irdischen Beruf." Nicht um irgend einen Menschen zu verherrlichen, sind diese Zeilen geschrieben worden, sondern um Dem die Ehre zu geben, der sich gerade der Schwachen erbarmt und sie in seinen Dienst stellt. Frl. von Blücher selbst schrieb einmal: "Ihm sei Preis, daß Er sich jederzeit zu solchen kleinen Anfängen bekennt und daß wir es immer wieder erfahren dürfen, wie Er nicht richtet nach dem Ansehen der Person, sondern segnet nach Seiner unermeßlichen Güte."Auf daß Er in allen Dingen den Vorrang habe" - das war die Botschaft, die sie noch auf dem letzten, von ihr miterlebten Jahresfest der Gemeinde den Versammelten gab. Er vermag jedes Leben überströmend zu machen, und mag auch die Art und Weise der Arbeit verschieden sein, so bleibt es doch wahr, daß Gott alle seine Erlösten zu Reichgottesarbeitern berufen hat, und auch das Leben unserer Schwester, deren Heiland wir preisen, ruft uns zu: "Siehe auf den Dienst, den du im Herrn empfangen hast, auf daß du ihn erfüllst." (Kolosser 4,17).
Anmerkung: Unter Benutzung eines Berichtes von Frl. von Blücher über ihre Arbeit selbst (1890) und eines kurzen Überblickes über ihr Leben von Julius Rohrbach (Berlin 1906). Siehe: Rohrbach: Toni von Blücher (PDF)
Literatur
Werner Beyer: Einheit in der Vielfalt, R. Brockhaus-Verlag (1995) S. 85-98
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