"G12" oder Gott
Sind die "G12-Gruppen" der Zellgemeindebewegung die Lösung schlechthin
- oder eine dramatische Fehlentwicklung?
Sind die Kosten für den Turmbau höher als die Werbung verspricht? - Von Wolfgang Simson [ 1 ]
1996
erlebte die kolumbianische MCI-Zellkirche unter der Leitung von Cesar
Castellanos die Anfänge ihres bislang größten Wachstumsschubes. In nur
sechs Monaten wuchs die Gemeinde von 4.000 Zellen im Sommer 1996 auf
10.000 im Februar 1997. Sie wurde zum Ausgangspunkt eines
Kleingruppen-Konzeptes, das sich heute unter dem Namen "G12"
auch in Europa ausbreitet.
Cesar
Castellanos hatte schon lange die Zwölferstruktur entdeckt und in seiner
Gemeinde eingeführt. Damals war aber von "G12", dem zentralen
Strukturgeheimnis, noch keine Rede. Die Gemeinde sprühte vor
Leidenschaft für die Verlorenen. Sie hatte eine Vision fürs ganze Land
und war sehr erfolgreich darin, Neubekehrte nicht nur in neuen Zellen zu
integrieren, sondern sie gleichzeitig zu effektiven Missionaren in ihrem
Umfeld auszubilden.
Wie "G12" entstand
Was
folgte, erinnert mich an die Zeit, in der die westliche stagnierende
Christenheit auf ihrer Suche nach Auswegen Yonggi Cho entdeckte. Zu
Tausenden pilgerten Pastoren damals nach Seoul, um von der "Yoido
Full Gospel Church" Ideen, Rezepte und Wachstumssubstrate
mitzunehmen und diese zuhause mehr oder weniger kreativ nachzumachen. Mit
sehr zweifelhaftem Erfolg. Wie damals übersahen viele auch hier, dass
das Geheimnis nicht in Rezepten, Methoden und Struktur-Konzepten liegt.
Es kommt auf den inneren Herzschlag an, die Demut, die Fähigkeit, Gottes
Stimme zu hören und das zu tun, was er sagt.
Bekannt
wurde die Gemeinde des dynamischen Cesar durch Jolle Comiskeys Buch
"G12" und eine große Zahl von "G12-Evangelisten",
die das G12-Konzept als das Wundermittel des Gemeindewachstum anpriesen -
nach der Formel: "G12" + "Encounter-Wochenenden" =
unaufhaltbares Gemeindewachstum. Hinter "G12" verbirgt sich
dabei eine radikale Form der Kleingruppenstruktur. Jedes Gemeindemitglied
ist nicht nur Mitglied einer 12-er Gruppe, sondern leitet selbst wieder
eine neue 12er-Gruppe, die sich nach angemessener Zeit wiederum durch
jedes Mitglied im Idealfall 12-mal multiplizieren soll. Mit dem üblichen
Verzögerungseffekt von drei bis fünf Jahren beginnt sich
"G12", nun auch in der deutschsprachigen Welt auszubreiten
(z.B. ICF-Bewegung in der Schweiz, Colin Dyes im Londoner
"Kensington Temple").
"G12" und seine Vorteile
Es
kann Umstände geben, in denen ein zeitlich begrenzter Einsatz einer
"G12"-Struktur positive Auswirkungen haben könnte:
Bei eingeschlafenen oder bereits aufgeweckten, aber auf sich bezogenen
Gemeinden, die auf evangelistischen Kurs gebracht werden sollen, wirkt
diese Struktur wie ein "Turbolader". "G12" kann wie
ein momentanes Hochdrehen in den roten Bereich des Drehzahlmessers sein.
Allerdings fährt niemand, der sein Auto liebt, ständig im roten
Bereich.
"G12" vermittelt in umfassender Weise einen genetischen Code,
der bei genetischen Mischgemeinden (die Mitglieder aus unterschiedlichen
Hintergründen rekrutieren) zu einem gemeinsamen Selbstverständnis führen
kann, Chaos reduziert und die Ausrichtung auf eine gemeinsame Vision fördert.
Für Gemeinden in einer
verzweifelten Ghetto-Situation kann "G12"
durchaus hilfreich sein. Nach zwei Jahren sollte aber unbedingt eine
Erholungspause eingelegt werden , um die durch "G12"
geschlagenen Wunden zu heilen.
"G12" prägt eine überstarke
Identität und ein Wir-Gefühl für junge
Leute mit viel Freizeit (und "Fun-First-Mentalität"). Überschüssige
Energie kann so für kurze Zeit positiv in den Gemeindeaufbau gelenkt
werden.
Als Extrem-Modell des
Zellkirchen-Ansatzes kann "G12" auch die
Kraft der bislang unproduktivsten Gemeindeglieder freisetzen – wenn nötig,
mit einem Tritt in den Hintern.
"G12" ist für
Pastoren und Bewegungen denkbar, die auf gar keinen
Fall auf den Status des Hauptleiters verzichten wollen – also an
traditionellen Kontrollmechanismen festhalten müssen, wenn sie ihre
Identität nicht verlieren wollen. Realistischerweise wird es immer
Christen geben, die sich am liebsten als Teil einer klar definierten
Kirche mit ihren organisierten, uniformen Programmen und einem
Hauptpastor sehen. Selbst Verantwortung zu übernehmen, kreativ und
organisch zu arbeiten, liegt ihnen fern.
"G12" und seine Nachteile
Leider
wird "G12" oft von einer Vision großer Zahlen inspiriert,
einer evangelistischen statt einer apostolisch-prophetischen
Grundhaltung. Ignoriert wird dabei einmal mehr, dass gemeindliche
Grundlagen nicht von eventhungrigen Evangelisten, sondern von
prozessorientierten apostlischen und prophetischen Diensten gelegt werden
(Eph 2,20). Unnachgiebig unterwirft "G12" jedes Gemeindeleben
brutal der Zahlenvision und dem drängelnden Evangelisieren. Das
instrumentalisiert das Gemeindeleben und produziert entweder christliche
"Workoholics" oder Leute mit Minderwertigkeitskomplexen.
"G12"
steht in der Gefahr, eine neue Sklaverei zu fördern, in der Mitglieder
zu Nummern im Generalplan des großen Führers werden. Menschen werden
missbraucht statt freigesetzt. Teilnehmer in
"G12"-strukturierten Gemeinden müssen sich darauf einstellen,
etwa sechs Treffen pro Woche zu besuchen: Ein so genanntes
"G2", dann gleich zwei "G12"-Gruppen, ein Treffen mit
VIPs, ein Leitertreffen und natürlich den wöchentlichen Gottesdienst.
In kurzer Zeit führt das dazu, dass auch die aktivsten, belastbarsten
Leute in der Regel nicht länger als zwei bis drei Jahre durchhalten oder
mitmachen wollen. Wo bleibt hier die Zeit für das Leben?
Diesem
Programm-Zyklus opfert "G12" die Familie und zerschlägt damit
die Grundeinsicht, dass Gott der Vater im Himmel und seine Gemeinde daher
zuerst Familie Gottes auf Erden ist. Die Eigeninitiative und Phantasie
der Mitglieder verarmt, weil sie ständig bereits vorgekautes Material an
andere weitergeben müssen. Gleichzeitig führt die Pyramidenbildung
eindeutig zum Personenkult. "G12" ist wahrscheinlich der
extremste programmorientierte Gemeindeaufbau-Ansatz, der existiert und
ganz klassisch versucht, die fehlende prophetische und familiäre
Dimension durch Programme wieder wett zu machen. "G12" beruft
sich dabei völlig zu Unrecht auf Jesus. Denn Jesus berief zwölf Apostel
und nicht zwölf Nummern einer Wachstumssekte. Hier wird einmal mehr die
gesunde Synergie des fünffältigen Dienstes durch Hierarchie und
Programm ersetzt.
Die
schlechten Erfahrungen von Gemeinden, die es mit "G12" versucht
haben, aber kläglich gescheitert sind oder noch rechtzeitig aufhören
konnten, werden verschwiegen. Warum?
Ein
programmatisches Jüngerschaftskonzept mit den vier Schritten Gewinnen
– Festigen – Trainieren – Aussenden in nur neun Monaten schert eine
sehr stark ausdifferenzierte Gesellschaft über einen Kamm und schleust
jeden Neubekehrten, ob er will oder nicht, durch einen Trichter.
Das System oder Gott?
Wer
die verwirrte und zerfahrene Christenheit der westlichen Welt vor die
Wahl stellt, sich entweder für eine todsichere Methode oder den
lebendigen Gott zu entscheiden, dem zeigt die Geschichte bis heute, dass
die meisten ohne mit der Wimper zu zucken den breiten Weg wählen. Sie
setzen lieber auf eine sichere Methode als auf den vermeintlich
unsicheren, kreativen und stets anderen Gott. Wir wählen das uns gefügige
System – nicht den eigenwilligen Gott. Doch der Gott der Bibel will
gesucht und nicht mit unseren Erfolgsmeldungen abgespeist werden. Er
bietet jedem von uns das Original eines genialen Lebensentwurfes. Warum
also als billige Kopie dahinvegetieren und seinen Traum verpassen? Mag
die ganze Welt mit Methode ans System glauben – glaube du an Gott.
[ 1 ]
Wolfgang Simson ist Autor und kirchlich unabhängiger Strategieberater
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Copyright (C) 2001 by Wolfgang Simson. Alle Rechte vorbehalten.
Dieses Papier ist ausschließlich für den persönlichen Gebrauch bestimmt.
URL: http://www.efg-hohenstaufenstr.de/downloads/texte/g12_oder_gott.html
Ins Netz gesetzt am 08.10.2004; letzte Änderung: 29.12.2016
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