Vorbeugende SeelsorgeFür Viele riecht Seelsorge stark nach Notfall, nach Blaulicht mit Talar. Wie bei einem akuten Krankheitsfall der Mediziner mit Notfallkoffer anrückt, kommt hier eben der Seelsorger mit Bibel angeschwebt. Ist die Erstversorgung abgeschlossen, haben der Mediziner und der Seelsorger ihren "Fall" abgearbeitet und ziehen weiter. Dieses Verständnis von Seelsorge mag sich gelegentlich mit der Wirklichkeit decken. Wenn dies aber die ganze Seelsorge ist, dann darf man keine hohe Erwartung an ihre Wirksamkeit haben. Das liegt daran, dass die Betroffenen viel zu oft erst dann Rat suchen, wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist. Problemsituationen sind dann oft schon so eskaliert sein, dass Hilfe nur noch schwer möglich ist. Manchmal kann der Seelsorger nur noch helfen, die Folgeschäden der Bruchlandung zu begrenzen. Der Begriff "Seelsorge" weist eigentlich in eine andere Richtung. "Sorge um die Seele" meint eben nicht nur die Reaktion auf einen Notfall, sondern eine allgemeine unauffällige Fürsorge. Schöner und klarer ist die Bedeutung eines altes Wortes, dass man früher verwendete, um zu beschreiben, was heute Seelsorge heißt: "Poimenik", die Lehre vom Hirtenamt. Mit diesem Wort sind wir ganz dicht an einer biblischen Aufgabenbeschreibung. Petrus zum Beispiel greift das Bild von Hirte und Herde auf, wenn er die Ältesten ermahnt, dass sie "die Herde Gottes hüten" sollen (1Pt.5,2). Das verstehen wir selbst als Laien in Sachen Schafzucht und Hirtenamt: Der normale Job des Hirten ist nicht die Notfallbetreuung, sondern die Verhütung des Notfalls. Wenn alles normal läuft, hat der Hirte gut gearbeitet. Genauso ist das normale Betätigungsfeld der Seelsorge vorbeugender Natur. Es ist noch kein Nachweis gelungener Seelsorge, wenn in einer Gemeinde auf akute Notfälle reagiert wird; besser ist, wenn es mit Gottes Hilfe gelingt, sie zu verhindern. Wie sieht nun vorbeugende Seelsorge in der Praxis aus? Die Antwort muss in jeden Fall schlicht ausfallen, denn sie meint ja nicht die auffällige Aktion, sondern ist eingewoben in das Normale, das Übliche. 1. Problemthemen aufgreifenLassen wir einmal kurz unsere Phantasie spielen. Stellen wir uns vor, man würde einige Pfähle in die Erde rammen, sie jeweils mit einem in der Seelsorge vorkommenden Problem beschriften und dann die "Problemfälle" auffordern, sich zu ihrem jeweiligen Pfahl zu stellen. Wie sähe die Gruppenbildung aus? Etwa so: An vielen Stellen stünden nur einzelne Leutchen, um drei oder vier Pfähle aber würden sich etwa 3/4 oder noch mehr aller Betroffenen versammeln. Was steht an diesen Pfählen?
Man kann also feststellen, dass die Mehrzahl aller Notsituationen in den Gemeinden im Umkreis einiger weniger Themen liegt. Verwunderlich ist nun, dass diese Themen in den "normalen" Verkündigungen wenig vorkommen. Manchmal hat man den Eindruck, dass auf weniger wichtigen theologischen Spielwiesen mit Hingabe gegraben wird, aber die für das praktische Leben relevanten Fragen kommen zu kurz. Das liegt nicht etwa an fehlenden Bibeltexten. Im Gegenteil, zumindest zu den ersten beiden der genannten Problemkreise würde man seitenweise Bibeltext finden. Und trotzdem geht es unangemessen ruhig zu. Es ist eigentlich noch schlimmer. Mehrjährige Befragungen unter Jugendmitarbeitern haben ergeben, dass etwa die Hälfte aller jungen Leute, die unsere Jugendkreise und Gemeinden verlassen, an Problemen scheitern, die mit Freundschaft, Liebe und Sexualität zu tun haben. Fragt man, wann denn das letzte Mal über solche Themen gesprochen worden ist, überwiegen diese Antworten: "Ich kann mich nicht erinnern", "Vielleicht vor ... Jahren", "In der Jugend schon mal, aber in der Gemeinde?..." Wenn immer in einer Gemeinde solche Sätze zutreffend sind, ist ein wichtiger Bestandteil vorbeugender Seelsorge vernachlässigt worden. Es ist zwar widerlich, welches öffentliche Spektakel aus diesem Thema gemacht wird, das darf aber kein Grund sein, im Gemeindeleben zu schweigen. Wenn überhaupt irgendwer das Recht und die Pflicht hat, über Sexualität zu reden, dann sind es Christen. Sexualität kommt aus Gottes Ideenkiste und ist damit heilig und gut und seine Hinweise sind ausgesprochen praxistauglich. Christen aber tun manchmal so, als sei die Sache in einem abgedunkelten Hinterzimmer der BRAVO-Redaktion entstanden und patentrechtlich geschützt. Nun mag es sein, dass keiner der Brüder, die sich an der Wortverkündigung beteiligen, aus freien Stücken so ein Thema aufgreifen will. Da kann es helfen, konkrete Predigtaufträge zu verteilen. Manchmal hilft die Bitte aus der vierten Reihe, doch einmal über einen bestimmten Text zu sprechen, und als allerletzte Idee kann man auch einen Gast einladen. Übrigens: Wer in einem Nebensatz erwähnt, dass Sex in die Ehe gehört, hat zwar etwas Wahres gesagt, aber er hat noch nicht "darüber gesprochen". Das ist ungefähr so, als bestünde der ganze Unterricht eines Fahrschüler aus dem Satz "Im Ort fährt man maximal Fünfzig". Das ist ein wichtiges Feld vorbeugender Seelsorge: Glaubwürdig und gründlich über die Themen sprechen, an denen erfahrungsgemäß viele Menschen Schaden nehmen. 2. Menschliche Nähe "organisieren"Wieviel Zeit Geschwister in den einzelnen Gemeinden miteinander verbringen, ist sehr unterschiedlich. In jungen Gemeinden ist das Gemeinschaftsbedürfnis erstaunlich hoch. In kleineren Gemeinden ist man in der Regel mehr zusammen als in großen. Wie es auch sei, als Tendenz macht man in vielen Gemeinden die Beobachtung, dass über die offiziellen Gemeindestunden hinaus weniger Gemeinschaft gepflegt wird als das wohl früher der Fall war. Es lassen sich dafür auch einige Gründe nennen, die man ernst nehmen muss:
Was aber hat Gemeinschaft mit vorbeugender Seelsorge zu tun? Gemeinschaft hat durchaus einige seelsorgerliche Komponenten. Sie wirken - wie es eben typisch ist für vorbeugende Seelsorge - nicht besonders aufregend, aber sie wirken. Dabei kann man unterschiedliche positive Einflüsse annehmen: Fehlentwicklungen werden beim persönlichen Kontakt früher wahrgenommen als in der Öffentlichkeit; man kann über konkrete Fragen sprechen; die persönliche Vertrauensebene wird (hoffentlich) vertieft und andere. Vielleicht haben sich manche Leser an der Teilüberschrift gestört: "Nähe organisieren". Gewiss, das "organisieren" hat seine Grenzen. Aber in einem gewissen Rahmen können wir als Gemeinde menschliche Gemeinschaft fördern. Man trifft im Land eine bunte Palette unterschiedlicher Ideen an, die es wert wären, in einem eigenen Beitrag vorgestellt zu werden. Das Anliegen dahinter ist aber immer gleich: Gemeinschaft zwischen Geschwistern fördern, und zwar nicht nur zwischen denen, die sich schon seit 30 Jahren mögen und besuchen, sondern auch mit denen, die mehr am Rand des Gemeindelebens stehen. Gerade die, die Gemeinschaft am Nötigsten hätten, ergreifen die Initiative dazu nicht selbst. Hier können wir als Gemeinde wirklich etwas - bleiben wir bei dem Wort! - organisieren. 3. Andere wohlwollend beeinflussenFür die beiden bisher beschriebenen Ebenen vorbeugender Seelsorge sind hauptsächlich die Leute zuständig, die Leitungsverantwortung haben. Der dritte Punkt ist breiter angelegt und richtet sich eigentlich an alle Gemeindeglieder. Vorbeugende Seelsorge in Gestalt wohlwollender Anteilnahme. Beginnen wir diesen Gedanken mit eine Frage: Wer soll sich nach den Angaben im Neuen Testament bewegen. Der Hilfsbedürftige zum Seelsorger oder dieser zu dem, der Hilfe braucht? Die Antwort ist überraschend eindeutig. Man wird kaum Texte finden, die den Notleidenden zum Seelsorger weisen, aber viele Texte, die die Christen anspornen, aufeinander zu achten. Das unterstreicht noch einmal, was schon am Anfang stand: Die normale Form der Seelsorge ist die Vorsorge. Die ersten beiden Text in der folgenden Übersicht richten sich an verantwortliche Brüder einer Gemeinde, die anderen drei Texte meinen jeden Christen. Die Bewegungsrichtung, die den fünf Beispieltexten innewohnt, ist immer gleich: Älteste, Geschwister sollen aufeinander achten und ermuntern.
Nun wissen wir aus Erfahrung, dass nicht alles, was einer dem anderen sagt, gleich vorbeugende Seelsorge ist. Noch nicht mal dann, wenn der gute Mensch mit seinen Anmerkungen die Wahrheit spricht. Wenn aus Worten etwas werden soll, was anderen wirklich wohl tut, sind einige Regeln zu beachten. Zum Teil sind sie schon in den erwähnten Texten finden. "...gib auf dich selbst acht..." (Gal.6,1; auch Hebr.)
"...ermahnt,...tröstet... seid langmütig" (1.Thess 5,14)
"...lasst uns aufeinander achthaben..." (Hebr.10,24)
Vielleicht kann man die Überlegungen so zusammenfassen: Vorbeugende Seelsorge ist die Seelsorge, von der man wenig merkt. Sie ist immer dann gut gewesen, wenn verhindert wurde, dass mögliche Schäden gar nicht erst in ein akutes Stadium geraten.
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