Essstörungen - Bulimie - Magersucht

von Dr. med. Hartmut Imgart [ 1 ]



„Essen und Trinken hält Leib und Seele zusammen“, so heißt ein altes Sprichwort und verweist auf die elementare Bedeutung des Essens im Leben jedes Menschen. Der Säugling ist nicht nur körperlich von ständiger Nahrungszufuhr abhängig, sondern im ersten Lebensjahr geschehen Kommunikation und Zuwendung im Wesentlichen auch über Nahrungsaufnahme. In den Familien bleiben die gemeinsamen Mahlzeiten zentraler Ort der Kommunikation und Identitätsbildung wie die familiären Traditionen der Festtagsessen zu Weihnachten. Viele soziokulturelle Entwicklungen wurzeln in der Menschheitsgeschichte im gemeinsamen Erobern, Produzieren und Verzehren von Nahrung. Essen und Trinken sind daher ein Ereignis, das jeden Menschen körperlich und seelisch erfasst und durch individuelle, interpersonelle und soziokulturelle Faktoren beeinflusst wird. Dass seelische Konflikte oder Leiden sich in diesem zentralen Lebensbereich als psychosomatische Störungen des Essverhaltens widerspiegeln, ist daher nicht verwunderlich.



Definition

Essstörungen sind häufige psychosomatische Erkrankungen. Zu ihnen werden die Anorexia nervosa (Magersucht) und die Bulimia nervosa (Ess-Brechsucht) gezählt. Die Adipositas (Fettsucht) kann in der aktuellen medizinischen Fachsprache nicht als Essstörung bezeichnet werden, da regelhaft kein seelischer Zusammenhang gefunden wird. Hilfsweise wird versucht, psychosomatische Formen der Adipositas als Psychogene Adipositas oder Binge-Eating-Disorder (Heißhungerstörung) zu klassifizieren.

Die Ursachen der Essstörungen werden durch viele Faktoren bedingt. Familiäre, soziale und soziokulturelle Einflüsse, biologische Faktoren sowie solche der Persönlichkeit und Persönlichkeitsentwicklung spielen dabei eine Rolle.



Ausbreitung und Folgen von Essstörungen

In Deutschland leiden 5 % aller Frauen zwischen dem 14. und 35. Lebensjahr an einer Magersucht oder Bulimie. Die Bulimie tritt zwei- bis viermal häufiger auf als die Anorexie. An einer Magersucht erkranken am häufigsten weibliche Jugendliche, an einer Ess-Brechsucht junge Frauen zwischen dem 20. und 30. Lebensjahr. 15 % der Gesamtbevölkerung sind behandlungsbedürftig adipös. Männer und Frauen sind gleichermaßen betroffen; eine Häufung der Erkrankung gibt es zwischen dem 40. und 65. Lebensjahr.
Immer mehr Männer leiden an Anorexie und Bulimie, derzeit sind 5 bis 10 % aller Erkrankten Männer. Trotz der Vielzahl von essgestörten Frauen und zunehmend Männern bleiben die meisten unbehandelt.
Im weiteren Text wird die weibliche Form (Patientin etc.) verwendet, da im wesentlichen Frauen von einer Essstörung betroffen sind.

Diese Zahlen spiegeln nicht nur das schwere Leid der Patientinnen wieder, auch die betroffenen Angehörigen leiden mit. Essstörungen verlaufen häufig chronisch mit immensen körperlichen und seelischen Folgeschäden.

Aktuelle Studien berichten über eine Zunahme von essgestörtem Verhalten bei Schülern und Studenten. Diäten, Essattacken und exzessives Sporttreiben zur Gewichtsreduktion verbreiten sich immer mehr. In immer jüngerem Alter erkranken Mädchen, besonders die Bulimie breitet sich aus. Auch sind vermehrt Jungen davon betroffen. In unserer klinischen Arbeit beschäftigen wir uns daher seit Jahren mit der frühzeitigen Behandlung von essgestörten Jugendlichen. Das half uns, die Ursachen der Krankheit etwas mehr zu verstehen.



Veränderungen und Aufgaben in der Adoleszenz

Die Entstehung von Essstörungen in der Adoleszenz geschieht in einem Kontext von einer Vielzahl von Entwicklungsaufgaben, die die betroffene Jugendliche lösen muss.



Wichtige Entwicklungsaufgaben in der Adoleszenz sind:

  • Seelische Integration von Längenwachstum, Entwicklung sekundärer Geschlechtsmerkmale und Geschlechtsreife
  • Abschied von der Kindheit
  • Distanzierung von den Eltern und dem Familienverband
  • Hinwendung zu Gleichaltrigen
  • Übernahme gesellschaftlicher Rollen, Lernen für die Berufsausbildung
  • Entwicklung einer geschlechtsspezifischen Identität

Dabei gibt es häufig rasante reale Veränderungen im Körper und in der Umwelt der Jugendlichen. Die Entwicklung der Brust und der Schambehaarung, die hormonell gesteuerte vermehrte Fetteinlagerung an den Hüften und am Gesäß sowie die phasenhafte, nicht steuerbare Erhöhung des Hormonspiegels sind gravierende Einschnitte.

Familien müssen sich auf eine sich immer schneller ändernde Umwelt einstellen, die Pubertät und Adoleszenz eines Kindes verlangen eine Neudefinierung der Rollenverteilung.

Die Gleichaltrigengruppe (Peergroup) stellt ein wichtiges Beziehungssystem dar. Werte und Normen der „Jugendkultur“ haben einen großen Einfluss auf die Adoleszente; das Essverhalten und die Einstellung zum eigenen Körper werden hier in hohem Maße mitgeprägt. Aggressive Auseinandersetzungen, Konkurrenzdruck und der Verlust von Freundschaften können Mädchen sehr belasten.

Wie beschrieben, kommt es in der Adoleszenz zu einer massiven Veränderung von Körper, Familienstruktur und Peergroup. Es gibt erhebliche seelische Umbrüche in der Pubertät, viele bisher gültige Sichtweisen werden in Frage gestellt. Diese Veränderungen führen häufig zu einer Erschütterung des Selbstwertgefühls und zur Störung der Selbstwahrnehmung. Der Körper wird verzerrt wahrgenommen, zu dick und zu hässlich. Die eigene Person erscheint nicht liebenswert und schuldbeladen. Die Umwelt erfährt die gleiche Verzerrung, Hilfsangebote werden als Bedrohung und Einmischung interpretiert. Die zunächst rein psychisch entstandene Fehlleitung bekommt durch die körperlichen Folgen der Essstörung eine weitere Verstärkung. Die Essstörung wird gleichsam ein seelisch-körperlicher Filter von problematischen oder überwältigenden Beziehungen. Die Patientinnen haben sich häufig aus lebendigen Beziehungen zu anderen Menschen zurückgezogen und in eine Welt geflüchtet, in der nur die Beschäftigung mit dem Essen und dem Gewicht Sicherheit und Kontrolle bieten kann.



Anorexia nervosa

heißt übersetzt: nervöse Appetitlosigkeit. Dieser Begriff ist irreführend, hat sich aber durchgesetzt. Die an dieser Störung leidenden Frauen haben keinen Appetitmangel, sondern bekämpfen ihren Hunger.

Die Anorexia nervosa ist dadurch gekennzeichnet, dass die betroffenen Frauen sich weigern, ein altersentsprechendes Normalgewicht zu halten (weniger als 15 % des Normalgewichts oder weniger als ein BMI von 17,5). Der BMI (Body-Mass-Index) setzt Körpergröße und Körpergewicht zueinander in Beziehung und wird wie folgt errechnet: Körpergewicht in kg geteilt durch Körpergröße in m².

Zentrales Leitmotiv ist der Wunsch nach extremer Schlankheit und Selbstbestimmung. Alle Versuche der Umwelt zu helfen werden als unzulässige Einflussnahme abgewehrt. Häufig besteht eine intellektuelle und körperliche Überaktivität, trotz vorhandener körperlicher Einschränkungen.

Der Gewichtsverlust ist selbst herbeigeführt durch:
  • Vermeidung hochkalorischer Speisen
  • selbst induziertes (bewirktes) Erbrechen
  • übertriebene körperliche Aktivitäten
  • Gebrauch von Appetitzüglern oder Diuretika (harntreibenden Mitteln)

Es besteht eine besondere Form der Wahrnehmungsstörung des eigenen Körpers: Die Patientinnen nehmen ihn als dick und aufgeblasen wahr, obwohl er abgemagert ist. Es kommt zu hormonellen Störungen, häufig wird die Menstruation unterbrochen.

Die körperlichen Folgeschäden sind: Organschäden (Selbstverdauung) durch das extreme Untergewicht, Verlangsamung des Herzschlages, Herz-Kreislaufbeschwerden, Knochenschwund. Die Anorexia nervosa hat unter den psychosomatischen Erkrankungen die höchste Sterberate, nämlich 5 %.

Das Phänomen der hungernden Frauen war schon im Mittelalter bekannt. Die Anorexia mirabilis, das heißt die wundersame Appetitlosigkeit trat bei jungen Frauen auf, die aus religiösen Gründen fasteten. Nicht wenige wurden als Heilige verehrt, die bekannteste von ihnen ist Katharina von Siena. Obgleich es viele Parallelen zu den heutigen Magersüchtigen gibt, existieren auch grundlegende Unterschiede. Die mittelalterliche Asketin strebte danach, durch Fasten die Schönheit der Seele zu vervollkommnen im Sinne eines religiösen Ideals. Die heutige Anorektikerin strebt nach Vollkommenheit des Körpers im Sinne eines gesellschaftlichen Schönheitsideals (nach Brumberg).

Das weibliche Schönheitsideal hat sich in den letzten Jahrzehnten dramatisch verändert, die Abbilder in den Medien werden von immer untergewichtigeren Models beherrscht. Dieser über die Medien vermittelte gesellschaftliche Druck führte auch zu einem vermehrten Auftreten von Essstörungen.

Die öffentliche Diskussion über sie und das Behandlungsnetz in Deutschland sind durch zwei Entwicklungen geprägt worden. Die feministische Bewegung griff das Thema auf und fokussierte auf die gesellschaftlichen Bedingungen, gleichzeitig organisierten sich viele Selbsthilfegruppen für Essgestörte, zunächst im Bereich der Suchthilfe. So ist bis heute mit Essstörungen der Begriff Sucht verbunden, obgleich nur bedingt eine Verbindung zwischen beiden Erkrankungen besteht. Das Behandlungsnetz lebt vom großen Engagement der Beratungsstellen und Selbsthilfegruppen, eine ausreichende Förderung der Behandlung und Forschung durch die Politik existiert jedoch nicht.

Die Behandlung von Anorektikerinnen hängt eng mit der Entwicklung der Familientherapie zusammen. Es hat sich bestätigt, dass Essstörungen oft mit gestörten Familienbeziehungen einhergehen und die essgestörten Töchter stellvertretend für die ganze Familie ein Krankheitssymptom entwickeln. Anorektikerinnen leben häufig in Familien, in denen es ein Ideal des Familienzusammenhalts, der Aufopferung und Harmonie gibt. Die eigenständige Entwicklung eines Familienmitgliedes ist häufig real oder in der Phantasie problematisch. In der anorektischen Erkrankung gelingt eine Distanzierung von der Familie und von wichtigen Bezugspersonen, ohne diese zu verlassen.

Das Mittel der Wahl in der Behandlung der Anorexie ist die Psychotherapie. Hier sollte jedoch eine speziell geschulte Therapeutin oder ein Therapeut konsultiert werden, da die körperliche Situation in die Therapie mit einbezogen werden muss, denn eine Verleugnung von Untergewicht kann lebensgefährlich werden. Bei einem BMI unterhalb von 15 (Jugendliche 14,5) ist eine stationäre internistische Akutbehandlung zur Ernährung notwendig. Bei einem schweren Verlauf der Erkrankung sollte eine stationäre psychotherapeutische Behandlung eingeleitet werden.

Ca. 30 % der an Anorexie Erkrankten werden durch Therapie geheilt, 30 % erzielen eine Besserung ihrer Symptome, 30 % gehen in eine chronische Erkrankungsform über, ca. 5 % sterben.



Bulimia nervosa

heißt übersetzt „nervöser Ochsenhunger“ und weist auf ein Kennzeichen der Erkrankung hin: die Heißhungeranfälle. Den Essattacken, bei denen sehr große Mengen Nahrung in kurzer Zeit verschlungen werden, folgen gewichtsregulierende Maßnahmen. Sie sollen dem dick machenden Effekt von Nahrung entgegenwirken:

  • selbst induziertes Erbrechen
  • Missbrauch von Abführmitteln
  • exzessiver Sport
  • zeitweise Hungerperioden

Es besteht eine krankhafte Furcht, dick zu werden, bei gleichzeitiger Gier nach Nahrungsmitteln. Die Scham über diese Erkrankung führt dazu, dass die Patientinnen erst mehrere Jahre nach dem Ausbruch in eine psychotherapeutische Behandlung kommen. Die Folgen der Bulimie sind nicht so augenfällig wie die der Anorexie, so erhält das Umfeld erst spät Kenntnis von der Erkrankung. Aus diesem Grunde wird die Bulimia nervosa oft auch als heimliche Schwester der Anorexia nervosa bezeichnet. Viele Bulimikerinnen haben zu Beginn ihrer Erkrankung eine anorektische Phase.
Bei den Essattacken werden riesige Portionen verzehrt (bis zu 10.000 Kalorien). Die Bulimie ist häufig vergesellschaftet mit Nikotin- und Alkoholsucht, Stehlen und Drogenkonsum. Depressive Störungen treten ebenso auf, die bis zu ernsthaften Suizidversuchen gehen können. Nicht selten ist ein selbstverletzendes Verhalten zu beobachten.
Die Bulimie ist eine äußerst belastende Erkrankung für den Körper. Eine Verarmung der Blutsalze und Flüssigkeitsmangel können zu Nierenversagen oder lebensbedrohlichen Herzrhythmusstörungen führen. In Einzelfällen kann es zum Zerreißen der inneren Organe, zu chronischen Ohrspeicheldrüsen- und Speiseröhrenentzündungen kommen. Zahnschäden und Regelstörungen sind weit verbreitet.

Historische Berichte über bulimisches Verhalten sind rar. Es ist ein Symptom unserer Zeit. Seit 1980 wird die Bulimie als eigenständiges Krankheitsbild dargestellt; erst seit dem Jahr 2000 ist es möglich, sie in der internationalen Klassifikation der Krankheiten zu beschreiben.

Die Familien von bulimischen Patientinnen funktionieren häufig nicht oder nicht mehr. Die Eltern können vielfach kein Vorbild mehr bieten. Ständig steigende Arbeitsanforderungen führen zu ihrer Überforderung, gleichzeitig wird suggeriert, dass alles zu bewältigen ist. Oft gibt es in den Familien traumatische Erlebnisse, aber keine Zeit und keinen Raum zu ihrer Bewältigung. Immer größere Forderungen nach persönlicher und beruflicher Flexibilität verunsichern die Eltern, die ihrerseits Orientierung bei den Kindern suchen. Diese halten sich dann an ihrer Essstörung fest und verweigern auf diese Weise das Erwachsenwerden.



Adipositas

ist eine weit verbreitete Erkrankung. In traditionellen Gesellschaften ist sie häufiger in der Oberschicht anzutreffen und prägt auch das Schönheitsideal. In unserer Gesellschaftsform findet man sie eher in der Unterschicht, denn Dicksein widerspricht unserem Schönheitsideal. Lange Zeit wurden Adipöse als undisziplinierte Menschen angesehen, die sich gehen lassen. Heute werden genetische und organische Einflüsse als stark prägend für eine solche Entwicklung erkannt.

  • Übergewicht beginnt bei einem BMI von 25 bis 30.
  • Adipositas beginnt bei einem BMI von 30.
  • Extreme Adipositas beginnt bei einem BMI von 40.

Adipositas bedingt ein erhöhtes Risiko für Herzerkrankungen, Zuckererkrankung, Bluthochdruck, Gelenkschäden und manche Krebsarten. Aber: Übergewicht ist nicht in jedem Fall gesundheitsschädlich. Seine Art (Fettverteilung am Körper) und die der Ernährung sind wichtige Einflussgrößen. Diäten können über den „Jojo-Effekt“ eine Adipositas aufrechterhalten oder verschlimmern. Durch sie kommt es zu einer besseren Nahrungsmittelverwertung, aber nach Ende der Diät zu einer übermäßigen Gewichtszunahme.
Da die Adipositas gesellschaftlich unerwünscht ist, kann sie seelische Verstimmungen auslösen. Als Psychogene Adipositas werden die Formen bezeichnet, die vor allem seelische Ursachen haben. Ungefähr 5 % aller Adipösen leiden an einer Heißhungerstörung (Binge-Eating-Disorder), das heißt, sie leiden an Essattacken, die durch Unlustspannungen ausgelöst werden. Ungefähr 10 % sind Nachtesser, die tagsüber ein eingeschränktes Essverhalten haben.
Immer mehr Jugendliche leiden an einer Adipositas. Häufig ist die Erkrankung mit einer depressiven Störung verbunden. Die Betroffenen leben traurig und zurückgezogen und essen vermehrt. Das Übergewicht fördert dann den weiteren sozialen Rückzug.



Essstörungen und sexueller Missbrauch

Viele der von uns behandelten Mädchen mit Essstörungen haben sexuelle Übergriffe erlebt, und manchmal stellt sich im Verlauf der Therapie heraus, dass es auch sexuellen Missbrauch gegeben hat. Die Erfahrung von sexueller Gewalt disponiert zur Entwicklung von Essstörungen. Sie ist ein Bewältigungsversuch des erlebten Traumas (der seelischen Verletzung) und gleichzeitig eine Autoaggression gegen den als unzuverlässig erlebten Körper. Die meisten traumatisierten Mädchen haben Phasen, in denen sie essgestört sind, aber nicht alle essgestörten Mädchen sind sexuell traumatisiert.



Männer mit Essstörungen

Immer mehr Männer leiden an Essstörungen. Nur wenige kommen in die Therapie, vermutlich weil die Scham sehr groß ist. Es gibt daher kaum verlässliche Daten über die Verbreitung und die Ursachen dafür. Allerdings finden sich Hinweise, dass die gesellschaftlichen Veränderungen eine zunehmende Rollenverunsicherung bei Männern erzeugen. Von den Medien wird der Männerkörper als Ware inzwischen in ähnlicher Weise okkupiert wie der Frauenkörper. Eine durch die Medienwelt begonnene Entkörperlichung der persönlichen Kontakte macht das Ausleben von aggressiv gefärbten Affekten schwierig; verunsicherte Väter taugen nur noch bedingt als Vorbild.



Warnzeichen für Essstörungen

Essstörungen bleiben lange im Verborgenen, meist gibt es nur allgemeine Hinweise. Mädchen, die an einer Anorexia nervosa leiden, versuchen am Anfang, familiäre Mahlzeiten zu meiden und benutzen dafür Ausreden wie: „Ich habe schon gegessen“, oder „Ich habe gar keinen Hunger.“ Dabei widmen sie sich häufig mit Ausdauer dem Wohlergehen der Familie, kochen aufwendige Gerichte für andere. Auch innerlich sind die Betroffenen ständig mit dem Essen beschäftigt, alle Lebensmittel werden in gute (nicht dick machende) und schlechte (dick machende) eingeteilt. Kalorien und Fettpunkte werden genauestens kontrolliert. Unter dem Vorwand, sich gesund zu ernähren, wird lange Zeit eine stark einseitige Ernährung durchgeführt. Viele Früchte und Gemüse werden konsumiert, manchmal ausschließlich Babybrei.

Das Essverhalten erfährt mit zunehmender Erkrankung eine immer stärkere Kontrolle. Dabei wird es auch zur Kontrolle von anderen eingesetzt. Häufig bestimmen Mädchen mit Essstörungen das Familienklima. Es besteht eine krankhafte Furcht, dick zu werden, was bei längerem Krankheitsverlauf zum völligen Vermeiden größerer Mahlzeiten oder sozialer Situationen, in denen gegessen wird, führt. Nach einer Nahrungsaufnahme versuchen die Mädchen, die Kalorien wieder abzutrainieren oder aus dem Körper zu entfernen. Übermäßiges Sporttreiben ist ein sichtbares Warnzeichen.

Im Sozialbereich ziehen sich die Mädchen häufig aus bestehenden Freundschaften zurück, haben keine Lust mehr, mit anderen etwas zu unternehmen. Nicht selten kommt es zu einem Rückzug ins Elternhaus, wobei sozial erwünschte Kontakte wie der Gang zur Kirche oder zur Schule lange aufrechterhalten werden. Im körperlichen Bereich wird die Abmagerung der Mädchen verdeckt durch Schlabberkleidung oder Tragen dicker Pullover und Mäntel; es fällt eine schlechte Durchblutung der Hände auf.

Bulimische Mädchen sind dagegen normalgewichtig, man sieht ihnen die Bulimie nicht an. Bei chronischem exzessiven Erbrechen schwellen die Ohrspeicheldrüsen wie bei Mumps an, und es entsteht ein „Hamstergesicht“. Diese Patientinnen sind oft sozial unangepasster als solche mit einer Anorexia nervosa. Schule schwänzen, aber auch Ladendiebstähle kommen öfter vor. Sie leiden an starken Stimmungsschwankungen und depressiven Verstimmungszuständen. Absichtlich zugefügte Schnittwunden, meist an den Unterarmen, können mit dieser Erkrankung verbunden sein.

Zusammenfassend ist festzustellen: Besonders die Kombination der Veränderung des Essverhaltens mit einer Veränderung des Sozialverhaltens ist ein Warnzeichen für eine Essstörung.



Was tun, wenn ein Mädchen in Ihrer Umgebung eine Essstörung hat?

Viele Mädchen, die zu uns kommen, haben sich zunächst einem Lehrer, einer Lehrerin oder einem Sozialarbeiter, einer Sozialarbeiterin anvertraut. Grundsätzlich erscheint es mir wichtig, dass man sich als Gesprächspartner oder -partnerin anbietet, ohne sich in die Essstörung hineinziehen zu lassen. Ein Einbeziehen wäre z. B. daran zu merken, dass Mädchen fordern, die Vertrauensperson solle sich darum kümmern, dass sie ausreichend äßen. Aus meiner Sicht sollte den Mädchen dringend geraten werden, eine Beratungsstelle, einen Therapeuten, eine Therapeutin oder einen Arzt, eine Ärztin aufzusuchen. Sind sie offensichtlich hilfsbedürftig, weigern sich aber, entsprechende Beratung in Anspruch zu nehmen, ist eine Information der Eltern notwendig.

Die Konfrontation mit einer Essstörung in der Familie kann für Eltern mit einer Vielzahl von schwer aushaltbaren Gefühlen verbunden sein. Wichtig ist, dass ihnen bewusst wird, nicht nur ihre Tochter leidet an einer solchen Störung, sondern viele andere Mädchen und Frauen auch. Essstörungen sind komplexe Krankheiten, Schuldzuweisungen helfen da nicht weiter. Das offene Thematisieren und das Aufsuchen von professioneller Hilfe bringen häufig eine deutliche Entlastung für die familiäre Situation.



Behandlung von Essstörungen

Zum Wesen der Essstörung gehört es, dass die Betroffenen meinen, ausschließlich sie allein könnten die Erkrankung „kontrollieren“ und besiegen. Manchmal entwickelt sich eine ähnliche Einstellung in der ganzen Familie. Diese Überzeugung ist falsch, denn in den meisten Fällen gelingt es nicht, die Erkrankung ohne Hilfe von anderen zu überwinden. Je früher eine Behandlung beginnt, desto größer sind die Erfolgsaussichten.

In den ambulanten Bereichen werden Einzelpsychotherapie, Gruppenpsychotherapie und Familientherapie oft in kombinierter Form durchgeführt, wobei insbesondere Beratungsstellen Gruppenangebote und Selbsthilfegruppen anbieten. Meist gibt es eine gute Abstimmung zwischen den Therapeuten in einer Stadt, die sich auf die Arbeit mit Essgestörten spezialisiert haben. Idealerweise sollte der aufgesuchte Therapeut eine Qualifikation im Bereich Essstörungen besitzen, jedoch dies allein kann einen Erfolg der Behandlung nicht garantieren. Eine kontinuierliche ärztliche Betreuung halte ich während einer Psychotherapie für zwingend notwendig, da es immer wieder zu schweren körperlichen Krisen, die auch lebensbedrohlich sein können, kommen kann.

Bei schweren körperlichen Komplikationen, bei Entwicklung starker depressiver Beschwerden und bei massiven Konflikten im sozialen Umfeld ist eine stationäre psychotherapeutische Behandlung angezeigt. Sie wird in den meisten Fällen für alle Betroffenen als sehr erleichternd empfunden.

In unserer Klinik in Bad Wildungen haben wir zur Zeit 50 Behandlungsplätze. Unser Hauptbehandlungsziel ist es, das Selbstwertgefühl der Patientinnen zu stärken und eine Veränderung der verzerrten Wahrnehmung der eigenen Person und des Körpers zu erreichen. Da wir eine Essstörung als individuellen Ausdruck auf eine individuelle Lebenssituation verstehen, ist es uns wichtig, eine ebensolche Abstimmung der Behandlung auf jede einzelne Patientin durchzuführen. In der Behandlung werden tiefenpsychologische, verhaltens-, körper- und familientherapeutische Elemente miteinander kombiniert.

Wir haben unterschiedliche Spezialprogramme für einzelne Patientinnengruppen in vergleichbaren Entwicklungsphasen erarbeitet. Wir bieten z. B. eine Therapie der Essstörungen in Mädchengruppen an: Die Mädchen im Alter von 14 bis 18 Jahren reisen alle gemeinsam an. Sie erleben innerhalb eines 8wöchigen Behandlungsprogramms die Möglichkeit der intensiven Auseinandersetzung mit sich, ihrer Krankheit und ihrer Familie, die in die Behandlung mit einbezogen wird. In den Spezialprogrammen für junge Frauen im Alter von 18 bis 35 Jahren ist die Behandlungszeit individueller wählbar, und auch die Behandlungselemente können auf die Person bezogen zusammengestellt werden.

Patientinnen, bei denen traumatische Erfahrungen mit sexualisierter Frauengewalt im Vordergrund stehen, können in einer Traumagruppe, die von einer Traumatherapeutin geleitet wird, behandelt werden.

Ab Herbst 2001 bieten wir zum ersten Mal ein männer-spezifisches Programm an: essgestörte Männer werden sowohl einzeltherapeutisch als auch in einer gemeinsamen Männer-Gruppe betreut.

Adipösen Patienten steht ein internistisch-verhaltenstherapeutisches Programm zur Verfügung oder die Teilnahme an anderen Spezialprogrammen.



Prävention von Essstörungen

Es hat sich herausgestellt, dass trotz verstärkter Information eine Zunahme von essgestörtem Verhalten im Jugendalter zu verzeichnen ist. Als Prävention ist daher nicht vermehrte Information notwendig, sondern das Schaffen von eigenen Bereichen – innerhalb oder außerhalb der Familie - für Jugendliche, in denen das Selbstwertgefühl gesteigert und das Selbstbewusstsein gestärkt werden können. Darin liegt derzeit die beste Prävention von Essstörungen.



[ 1 ] Der Autor, Dr. med. Hartmut Imgart, Jg. 1962, verh., 2 Kinder; Studium der Biochemie und Medizin, Facharztausbildung; Oberarzt an der Parkland-Klinik in Bad Wildungen und Leiter der Fachabteilung für Essstörungen.

Dieser Artikel ist mit freundlicher Genehmigung der Zeitschrift "Weisses Kreuz" Zeitschrift für Lebensfragen entnommen. Sie können gerne diese Zeitschrift auf Spendenbasis abonnieren.



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Ins Netz gesetzt am 30.08.2002; letzte Änderung: 22.11.2018

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