Gemeinde zwischen Wunsch und Wirklichkeit


"Groß, schlank, blond: 26 Jahre. Sehr hübsch, sportlich, studiert, weitgereist, gebildet, offen, doch prinzipientreu, lebensfroh, modern, mutig, bereits verantwortungsbewusste Mutter, wünscht sich einen Mann: Groß gebildet, finanziell abgesichert, mit ausgeprägter Persönlichkeit...."

Die Anzeige unter der Rubrik "Sie sucht ihn" liest sich wirklich toll. Da bleiben ja (fast) keine Wünsche offen. Um diese Dame werden die Männer kreisen, wie die Motten ums Licht - denkt man jedenfalls. Es kann gut sein, dass sich etliche Bewerber melden, aber spätestens nach der ersten Begegnung werden die meisten mit hängenden Köpfen davonschleichen - so die Statistik. Tatsächlich führt nur jede achte Kontaktanzeige zu einer längerfristigen Verbindung, wobei man bedenken muss, dass man pro Anzeige mit mehreren "Testkontakten" rechnen kann. Warum ist die Erfolgsquote so auffällig niedrig?

Das liegt an gewissen Enttäuschungen. Durch den Anzeigetext ist in der Phantasie des Interessenten ein Bild und ein Charakterprofil entstanden, dass über jeden Zweifel erhaben ist. Dann trifft man den Menschen und hat den Eindruck, dass Text und Wirklichkeit einfach nicht zusammen passen wollen.

Hat die gute Frau gelogen? Vielleicht kann man das so nicht direkt sagen, aber manche Begriffe sind doch zu wohlwollend ausgefallen, andere sind mehrdeutig. "Prinzipientreu" ist sie, wer nach einem Synonym sucht, könnte sie genausogut als eigensinnig beschreiben. "Sportlich" ist sie überhaupt nicht, sie wollte nur alle Dicken abschrecken. "Offen" nennt sie sich, aber was heißt das? Offen - wofür? Ist sie bei dieser Offenheit Mutter geworden? So viel Offenheit ist nun auch keine Einladung. So bröckelt von den großen Begriffen nach und nach der Putz ab und übrig bleibt eine durchschnittliche Frau mit überdurchschnittlichen Ansprüchen.

Wenn Menschen christliche Gemeinden kennen lernen, dann machen sie manchmal ähnliche Erfahrungen. Im Kopf hat man ein Gemeinde-Ideal, dass sich mit der Wirklichkeit nicht richtig deckt. Liebe, Erlösung, Gemeinschaftsfähigkeit, Selbstlosigkeit gehören doch zum christlichen Einmaleins. So kommt man mit großen Erwartungen - die irgendwann der Ernüchterung weichen, weil es eben nicht nur geistlich, sondern manchmal auch sehr menschlich zugeht.

Wenn wir nach den Ursachen suchen, können wir zwischen zwei Hauptgründen unterscheiden: Es gibt einerseits im Erscheinungsbild unserer Gemeinden Mängel, die hausgemacht sind. Sie können mit tradierten Eigenarten zusammenhängen, mit Leitungsschwächen, mit problematischen Geschwistern, mit Lässigkeit, Gedankenlosigkeit und vielen anderen Unarten.

Dass Ideal und Wirklichkeit der Gemeinde auseinander klaffen, hängt andererseits auch mit Faktoren zusammen, die in der Konstruktion der Gemeinde begründet sind. Um diesen zweiten Block, dreht sich der Artikel.

Es geht dabei nicht um Konstruktionsfehler, sondern um die Beobachtung, dass die Gläubigen große Heilstatsachen als sicheren Besitz ansehen können, aber keines dieser Heilsgüter haben wir schon in endgültiger, abgeschlossener Form. Wir haben sie als Anzahlung. Das ist ungefähr so, als hätten wir die kompletten, bezahlten Unterlagen für eine Urlaubsreise in der Hand, sind aber noch zu Hause. Es ist zwar alles vorbereitetet, doch bis zum Abflug lebt man in seiner "alten Welt". Diese Diskrepanz zwischen dem zugeeigneten Heilsgütern und der alten Lebenswelt sorgt mit dafür, dass wir im Gemeinde Glanz und Schwachheit manchmal dicht beieinander sehen.


1. Gläubige sind erlöst - und warten doch noch auf die Erlösung

"In ihm haben wir die Erlösung, die Vergebung der Sünden" (Kolosser 1,14)

Wenn Christen zur Feier des Herrenmahles zusammen sind, dann feiern sie damit immer auch die Erlösung von der Sünde. Seit Jesus am Kreuz starb, muss keiner mehr wegen seiner eigenen Schuld von Gott verurteilt werden. Das ist wahr und in der Schrift vielfach bezeugt.

Damit ist aber nicht gesagt, dass Sünde kein Problem mehr sein. Erlöst sein heißt leider nicht, über die Sünde erhaben zu sein. Gemeinde ist eben keine Gemeinschaft von Leuten, die das Thema Sünde hinter sich haben, sondern von begnadigten Sündern. Und selbst wenn sie ganz unter sich sind und von keinem Heiden gestört werden, können sich die Frommen recht unerlöst benehmen. Warum diese Zwiespältigkeit? Wir leben auch nach der Bekehrung in einem unerlösten Körper und einer unerlösten Welt. Das Heil in Christus wird eines Tages auch unseren Leib und schließlich die ganze Welt erfassen, aber soweit ist es noch nicht. Wir kennen noch den Druck der Versuchung, wir kennen die Erfahrung, der Sünde auf den Leim gegangen zu sein. So leben wir in einer Übergangssituation: Wir haben die Erlösung, aber haben sie doch erst als Anzahlung. Trotzdem werden wir wieder zur Mahlfeier gehen und unsere Erlösung feiern, denn die Weichen sind ein für alle mal gestellt.


2. Wir haben Bürgerrecht im Himmel - und leben doch noch mitten in der Welt

"Unser Bürgertum ist in den Himmeln ..." (Philipper 3,20)

In unserem Staat ist man zwar gegen eine doppelte Staatsbürgerschaft, aber Christen haben sie. Wir sind Bürger der Bundesrepublik Deutschland mit Personalausweis, Stimmrecht und Steuerpflicht. Wir bezahlen Grundsteuer, weil uns auf diesem Globus ein paar Quadratmeter gehören. Von jedem Euro, den wir verdienen, zieht der Staat ein paar Cent ab und schmiert damit das Getriebe dieser Welt. Wir leben nicht auf Abstand, sondern sind mittendrin. Kein Mensch, der uns oberflächlich beobachtet, hat den Eindruck, dass wir eigentlich nur gastweise hier sind.

Muss uns das grämen? Nicht unbedingt. Als Jesus vor gut 2000 Jahren Mensch wurde, kam er aus der himmlischen Welt und hatte die Perspektive, nach wenigen Jahrzehnten dahin zurückzukehren. Er war wie kein anderer Repräsentant dieser anderen Welt, und doch lebte er ganz hier. Als Kind fuhr er mit seinen kleinen Fingern die Buchstabenreihen ausrangierter Thorarollen entlang, um Lesen zu lernen. Er wanderte im Pilgerzug zum Tempel, lernte ein Handwerk, zahlte Steuern - so wie alle Leute.

Und dann sind wir Bürger einer anderen, himmlischen Welt. Wir kennen sie noch gar nicht, und sagen trotzdem gelegentlich, dass dort unsere Heimat sei. Wir tun manche Dinge, die hier wenig Beachtung finden, und glauben, dass eben diese Taten Wert haben im Blick auf die himmlische Welt. So schwanken Christen zwischen diesen Welten hin und her. Sie hören am Sonntag eine Predigt, sind im Gewissen getroffen und entschließen sich, künftig mehr "nach dem Reich Gottes zu trachten" (Matthäus 6,33) und konkret in der Gemeinde mitzuarbeiten. Am Donnerstag kommt der Chef und bietet bezahlte Überstunden an, weil die dicken Aufträge sonst nicht zu schaffen sind. Damit könne man den erträumten Afrika-Urlaub bezahlen - da wirkt der verheißene Lohn im Himmel auf einmal merkwürdig fern. Hier werben zwei Welten um den gleichen Menschen, und wie wir Christen auf diese Werbung reagieren, ist sehr unterschiedlich. Und eben diesen Unterschied sieht man im Gemeindeleben. Manchmal schon am Echo auf die simple Frage, wer am Samstag zum Baueinsatz kommt.


3. Wir haben ewiges Leben - und gehen doch in Richtung Tod

"Wer mein Wort hört und glaubt dem, der mich gesandt hat, hat ewiges Leben ..." (Johannes 5,24)

Christen haben ewiges Leben. Nicht nur als ferne Verheißung, sondern es hat jetzt schon begonnen. Selbst der Tod wird sie nicht mehr von diesem Leben und von Jesus, dem "Fürsten des Lebens" trennen. Der Tod hat für Christen viel von seinem Schrecken verloren. Die düstere Ungewissheit, was jenseits der Todeslinie liegt, ist seit Ostern einer konkreten Ewigkeitshoffnung gewichen. Aber genau hier liegt das Problem. Wir haben zwar jetzt schon ewiges Leben, richtig greifbar wird es aber erst, wenn wir gestorben sind. Wir haben das Leben - und haben es doch noch nicht. Bis wir "jenseits" ankommen, gehen Christen und Nichtchristen den gleichen Weg. Wir bekommen graue Haare und Falten und eines Tages kann es die dickste Creme nicht mehr verbergen: Wir sind alt geworden, begleitet von all den Defekten, die eine ablaufende biologische Uhr hinterlässt. Wir sehen, wie ehemals stabile, entscheidungsfähige Älteste als alte Männer nur noch ängstlich sind und Verantwortung nicht mehr verkraften; wir kennen Brüder und Schwestern, die von schweren Krankheiten geplagt werden, wir kennen Demenzkranke, wir kennen Geschwister, die wir nach unserem Empfinden viel zu früh zum Grab begleiten mussten.

Nicht jeder Gläubige meistert diesen Weg aufrecht und ohne Makel. Der Schmerz kann launisch und Einsamkeit bitter machen, Depression den Menschen verformen und Pflegebedürftige fühlen sich so ausgeliefert. Auch der Mensch in diesem Zustand gehört zum Bild der Gemeide!

Jawohl, es bleibt dabei, wir haben das ewige Leben. Aber Alter und Tod und die Last des Sterben-müssens können sich so unverschämt quer in den Weg stellen, dass man gar nicht mehr richtig sehen kann, was dahinter kommt.


4. Die Gemeinde ist vollkommen - und erscheint uns doch so mangelhaft

"... damit er die Gemeinde sich selbst verherrlicht darstellt, die nicht Flecken und Runzel oder etwas dergleichen habe, sondern dass sie heilig und tadellos sei. (Epheser 5,27)"

Man hat fast den Eindruck, dass Paulus in einem Synonymwörterbuch stöbert und Begriffe sammelt, die irgendwie zu "makellos" passen. Wir glauben es: In den Augen unseres Herrn erscheint die Gemeinde offenbar ohne jeden Schatten.
Aber das so zu akzeptieren, ist ein Glaubensakt, denn was wir sehen, ist fern von tadellos. Ein beliebiger Sonntag morgen. Wir begeben uns Richtung Gemeindehaus. Schon auf dem Parkplatz geht der Ärger los. Bruder Geyer redet zwar gern von himmlischen Örtern, hat aber immer noch keine Ahnung, wie man auf der Erde parkt. Wie ihm heute wieder das Auto aus der Hand gefallen ist! Dann hat jemand zwei Zigarettenkippen entdeckt: Die Jugend! Keine Zucht mehr, das war bei uns anders, da haben sie draußen geraucht.... Es sind alles keine großen Vergehen, aber Gemeinde ohne "Flecken und Runzel" können wir noch gar nicht denken.

Und wie sehen unsere Zeitgenossen unsere Gemeinden? "Heilig und tadellos?" Manchmal leider auch ganz anders. "Der da hinten" fragt ein Freund bei einem Gästegottesdienst, "gehört der auch zu euch"? "Ja, warum?" "Hätte ich nicht gedacht. Ich kenne den ganz anders". Der gleiche Mensch, an dem Gott keinen Makel sieht, denn kennt einer "ganz anders". Viele Nichtchristen begründen ihr erloschenes Interesse am Evangelium mit den Erlebnissen, die sie mit Christen hatten. Man braucht schon einen kräftigen Filter, um diese Mannschaft als makellos wahrzunehmen. Nun, Gott hat ihn, diesen kräftigen Filter. Seit das Blut unseres Herrn geflossen ist, sieht Gott keine Sünde mehr bei denen, die an Jesus glauben. Wir sehen uns dagegen ziemlich ungefiltert an und machen entsprechende Beobachtungen.

Es kommt der Tag, an dem aus der Anzahlung der komplette Besitz wird. Dann wird die Schönheit des Gottesvolkes wirklich keinen Schatten mehr haben. Dann werden wir und selbst die Gegner sehen, dass erfüllt ist, wofür Jesus betete "...und die Herrlichkeit, die du mir gegeben hast, habe ich ihnen gegeben" (Johannes 17,22).

© Andreas Ebert

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Ins Netz gesetzt am 20.05.2003; letzte Änderung: 29.05.2013

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